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Archiv-Artikel

nach zehn Jahren Kreuzberg 36 lebt

Postleitzahlen

„Ick find’ mer nich mehr zurechte“. Diesen Satz ließ der Schriftsteller Alfred Döblin seinen Franz Biberkopf sagen, als der in den Zwanzigern aus dem Knast entlassen wurde. Aus heutiger Sicht kann man da nur lachen. Von Berlin-Tegel nach Berlin-Alexanderplatz, das war doch ganz einfach, mit der Straßenbahn über Berlin N 54 nach Berlin C, eine Fahrt also ohne Umwege, ohne in NO, SW, SO, O oder W in der Kneipe zu landen.

Wer sich heute nicht mehr zurechtefindet, das sind wir. Schließlich fehlt uns ebenjenes geografische Informationssystem, an dem sich Biberkopf noch orientieren konnte. Da stand N für Nord, SW für Südwest, C für Centrum, und wer es genau wollte, suchte auf dem Stadtplan nach Südost 61 oder Südost 36. Selbst vor zehn Jahren konnte man sich noch zurechtfinden, da fehlten zwar SO und NW, die Zahlen waren aber gleich geblieben.

Doch dann kam der 1. Juli 1993 und mit ihm ein als Postleitzahlreform getarnter Angriff auf unsere Orientierung. Seitdem leben wir in 10405 oder 10589 Berlin, schreiben keine Postkarten mehr, weil wir uns das alles nicht mehr merken können, und wissen auch nicht, wo der wohnt, dessen Absender wir auf dem Briefumschlag finden.

So gäbe es einiges zu lamentieren, wenn nicht sogar einen neuen Großstadtroman zu schreiben über allerlei Verluste an Identität, wären da nicht die Kreuzberger. T-Shirts mit der Aufschrift Kreuzberg 36 sind am Kottbusser Tor kein Underground-Beitrag zum Ethno-Chic, sondern ganz ernst gemeint. Niemand weiß das besser als die armen Neuberliner, die ahnungslos in der Kopischstraße landen und als 61er sofort als Kreuzberger zweiter Klasse behandelt werden. In Kreuzberg stimmt sie noch, die Orientierung, hier weiß man, wo hinten und vorne, rechts oder links ist.

Dabei könnten sie längst vom Zustand der Desorientierung profitieren, die Ausgestoßenen. Vor mehr als 15 Jahren erzählte mir ein Freund, dass er von 36 in eine viel schlechtere und teuerere Wohnung nach 33 umgezogen sei. Er war arbeitslos, schrieb Bewerbungen und brauchte eine „Adresse“, da war Dahlem, Thielallee, natürlich genau das Richtige. Wer sich heute mit 14195 bewirbt, wird nicht mehr und nicht weniger Chancen haben als mit 10999. Für Franz Biberkopf kommt freilich jede Rettung zu spät. UWE RADA