montagsmaler Zu Gemütskrankheiten und anderen Ordnungen: Weltwissen aus der Rumpelkammer
Die Frage, ob in meiner Familie Nervenkrankheiten oder andere Gemütskrankheiten aufgetreten sind, konnte ich nicht sofort beantworten, weil ich gerade überlegte, wie man „Arzt“ schreibt und ob ich später auch so mit meinem Gebiss im Mund herumspielen werde wie die alte Frau, neben der ich im Warteraum gesessen hatte.
Die nächste Frage, ob ich etwas gebrochen hätte, hat mich dann restlos verwirrt, weswegen ich „schon oft“ antwortete. Bin ich schon gemütskrank, weil ich jedesmal weinen muss, wenn ich die Betreiber des Eiscafés nebenan abends allein im Geschäft vor ihrer Humphrey-Bogart-Tapete fernsehen sehe? Die Tapete hatte ihnen eigentlich ein paar neue Zielgruppen erschließen sollen, aber statt dessen haben sie sogar ihre einstige Stammkundschaft verloren, seit sie in die Tür ein „Open“-Schild gehängt haben. Die Leute lesen es und kehren wieder um, weil sie es nicht verstehen.
Aber ob man krank ist oder normal, ist ja bekanntlich Ansichtssache. Ein Freund hatte zum Beispiel in einer Fabriketage in einem Friedrichshainer Hinterhof eine Ausstellung zum Thema „Ordnung or Dnung“ organisiert. Jeder habe seine eigene Dnung, sie sei das Gegenstück zur ihn umgebenden Ordnung. Der Ort wirkte wie der Rückzugsbereich des wahnsinnigen Killers aus David Finchers Thriller „Seven“.
Auf dem Hof stand sogar eine echte Obdachlosenmülltonne zum Händewärmen. Ein Künstler hatte aus Müll eine Röhrenmaschine montiert, die Murmeln sortierte, ein anderer ließ von den Besuchern ein Bild malen, auf dem sie ihre Dnung mit seiner konfrontierten. Ein dritter hatte auf einem Tisch Gegenstände bereitgelegt, wie man sie einfach nicht wegwerfen kann. Die Besucher machten damit, was sie wollten, das Ergebnis wurde fotografiert. Aus einem Ammoniten, einer Schale lebender Angelwürmer, einem Gefrierhuhn, einem Nashorn, einer Babypuppe und einem Gameboy wurde eine ganze Evolutionskette, man musste sie nur entsprechend anordnen.
Eine Installation war allerdings gar nicht geplant gewesen, obwohl sie nicht hätte fehlen dürfen. Die Künstler staunten nämlich nicht schlecht, als sich herausstellte, dass die überquellende Rumpelkammer, die sich auf ihrer Etage hinter einer Tür verbarg, das Schatzlager eines echten Messies war. Er betrieb in diesem vermoderten Winkel eine private Bibliothek, die nichts weniger zum Ziel hatte, als das gesamte Weltwissen zu kategorisieren und allgemein zugänglich zu machen. Auf seinen Informationszetteln bezeichnete er sich als „Enzyklopädagoge“, promoviert war er auch, zum Thema „Die Begriffe der Unterscheidung und Entscheidung als Prolegomena zu einer zukünftigen Enzyklopädie“. Zweifellos eine Dnung-Koryphäe. So ein Mensch würde sicher Probleme bekommen, in die Künstlersozialkasse aufgenommen zu werden. Leichter hätte es in dieser Hinsicht wohl ein Kollege, der sein Wohnungschaos einfach als „Archiv“ bezeichnet. Er lädt oft Besucher ein, die sich bei ihm erstaunlich wohl fühlen, weil seine Wohnung sie von ihren eigenen Sorgen ablenkt.
Ich würde auch gerne Menschen auf so eine einfache Art beglücken, aber ich finde Besucher anstrengend, weil mir die Zeit, die sie für die fünf Treppen brauchen, jedes Mal zu knapp ist, um meine Teppichtroddeln durcheinander zu bringen. Wenn sie mitbekommen, dass ich sie jeden Tag kämme, müssen sie ja denken, ich sei zwanghaft. Obwohl sie das auch schon vermuten könnten, wenn sie wüssten, dass ich vor jedem Werkzeugladen stehen bleiben und lange die Bohrer betrachten muss, um meine Männlichkeit zu demonstrieren. Es ist sehr zeitaufwendig, aber ich habe keine andere Wahl, weil ich nicht richtig pfeifen kann. JOCHEN SCHMIDT
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