montagsmalerEin Fall vom Pferd und die Folgen: Das Leben ist eine Nase
An den Wochenenden steigen Kit und ich manchmal in einen Bus und fahren bis zur Endstation. Als wir an einer Plakatwand vorbeifuhren, erzählte ich Kit von Leuten, die in Teheran in den Sockeln riesiger Werbetafeln als Werbetafelwächter leben.
Darauf sagte Kit: „Ich war als Kind mal auf einer Geburtstagsparty, dort sollte man sich eine Smartieröhre auf die Nase setzen, und alle, die dann einen blauen Punkt vorne hatten, waren in einer Gruppe oder so. Aber bei mir ging die Packung nicht auf die Nase drauf. Ich war den ganzen Tag traurig und heulte, weil ich dachte, dass ich nirgendwo hinpasse. Ich hatte plötzlich ein Gefühl völliger Andersartigkeit, weil ich jetzt wusste, die anderen Kinder haben alle schmale Nasen, die irgendwo hineinpassen, und meine Nase passt eben nicht in so eine Smartieröhre hinein. Und das wird sich auch nie wieder ändern, dachte ich, aber irgendwann ist die Nase gemeinsam mit meinem Gesicht in eine bessere Form gewachsen.“
„Heute würde die Smartieröhre draufpassen?“
„Nein. Aber das ganze Gesicht ist, glaube ich, homogener. Du musst dir vorstellen, diese Nase war damals, mit acht, schon so groß wie heute. Ich hatte wirklich, das sieht man auch auf Kinderfotos, eine extrem große Nase.“
„Ich dachte, die Geschichte spielte in Kindergartentagen.“
„Ja schon, im Kindergarten ging's aber eigentlich noch, obwohl die Nase da auch schon gebrochen war, das sah man sehr deutlich, sie war sehr breit. Und da ich ein ganz schmales Gesicht hatte, sah man immer als erstes die Nase. Später, in der Pubertät, wurde es wirklich grotesk. Als ich zwölf war, hat mein Bruder einmal beim Mittagessen beinahe angefangen zu weinen, weil er meinte, dass ich so hässlich sei, was ihm so Leid tat. Da hatte ich gerade zum ersten Mal einen Mitesser ausgedrückt, und die Nase war total angeschwollen, und er rief: ‚Mama, Mama, kuck dir mal die Kit an, die sieht ja schrecklich aus!‘ Deshalb habe ich jahrelang versucht, meine Nase zu verdecken, wenn ich mit jemandem redete, den ich nett fand. Ich dachte, wenn er die Ausmaße meiner Nase erkennt, ist es mit der Sympathie vorbei.“
„Und wie hast du sie verdeckt?“
„Ich habe immer meine Hand darüber gehalten. Das war damals meine typische Bewegung.“
„Wieso war deine Nase denn gebrochen?“
„Ich war noch ganz klein, anderthalb oder zwei, wir waren im Urlaub, meine Mutter hat mich auf ein Pferd gesetzt, weil ich schon so begeistert war von Pferden, es hat einmal gebuckelt, ich bin runtergefallen, und die Nase war gebrochen.“
„Du kannst dich daran erinnern?“
„Nein, ich wusste es zuerst auch gar nicht. Ich dachte immer, ich würde halt einfach so aussehen. Und als ich es erzählt bekam, fand ich es schrecklich, das da etwas passiert war, was mich schon so früh so sehr verändert hatte. Ich dachte, wenn das nicht passiert wäre, würde ich heute vielleicht ganz anders aussehen, dann wäre ich vielleicht richtig hübsch geworden. Es war das erste Mal, das ich mir darüber Gedanken gemacht habe, dass im Leben Dinge passieren, die unwiderruflich sind. Wenn das damals anders gelaufen wäre mit dem Pferd, wer weiß, was aus mir geworden wäre.“
„Vielleicht wäre dein ganzes Leben anders verlaufen.“ Ich sah aus dem Busfenster und dachte: „Im Übrigen bin ich nicht der Meinung, dass Bagdad zerstört werden muss.“ Manchmal denke ich mir Sätze aus, die ich irgendwann vielleicht einmal sagen könnte.
Dann sagte ich zu Kit: „Deine Nase steht dir ausgezeichnet.“
„Danke.“ Sie lächelte. Draußen zogen die in der Sonne leuchtenden Häuserzeilen vorüber.
TOBIAS HÜLSWITT
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