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modernes antiquariatAm WG-Tisch: 1985 erschien Uli Beckers Gedichtband „Das blaue Wunder“

„oder wie erlebt ihr das?“

Vor dem Boom war auch schon Boom: Wir stellen in unregelmäßigen Abständen Berlin-Romane vor, die vor 1989 erschienen sind.

Sorry, deutsche Gegenwartsliteratur, aber Uli Becker ist immer noch der einzige würdige Nachfolger Rolf Dieter Brinkmanns. Becker hat da angefangen, wo Brinkmann tragischerweise in London aufhören musste, übertrifft seinen Gewährsmann allerdings, jedenfalls was sprachliche Virtuosität und formale Begabung angeht, um Längen. Und vor allem besitzt er das, was Brinkmann so sehr fehlte: Witz und eine ironische Perspektive auf die Dinge, die Menschen und die Welt – auf „Das blaue Wunder“ eben.

In diesem, seinem fünften Gedichtband von 1985 geht es ihm vor allem um die Menschen, genauer seine Orts- und Zeitgenossen, um „Leute auf den ersten Blick“, so will es der Untertitel. Schnelle Skizzen also sollen das sein, Berliner Blaupausen, die nachgerade seriell gefertigt scheinen, insofern sie immer wieder der gleichen Struktur gehorchen (und die doch nichts weniger sind als flüchtig hingetuscht).

„Leute / mit einer pinken Strähne ins Haar gesprüht / wie Robbenbabies, deren Fell / von Greenpeace-Leuten mit ungiftiger Farbe / für den Handel wertlos gemacht worden ist“ – „und Leute / wie diese Pfingsturlauber, / die ins Grablinnen ihrer Falkpläne gewickelt / die Kantstraße entlanggeweht kommen / und den Ku-Damm nicht finden“ – „und Leute / wie das Rudel Herthafrösche, / das sich auf dem Oberdeck vom Nachtbus / des rabelais’schen ,Fay ce que vouldras‘ / erinnert, was übersetzt nichts anderes ist / als eine Lizenz zum Sitzeaufschlitzen: / Als Horizontersatz in weiter Ferne / der Rand des Papptellers, an dem Kilroy / Klimmzüge macht und ins Dunkel glotzt“.

Und so nach und nach bekommen Erinnerung und Fantasie genügend Stoff vorgesetzt, um aus diesen Fragmenten ein Bild der 80er-Jahre zusammenzusetzen. Vor unseren Augen rematerialisiert sich historische Wirklichkeit (nicht nur, aber doch vor allem Berlins).

Das sollte zwar jede Literatur – laut Arno Schmidt – wenigstens leisten, aber es macht dennoch Spaß, dabei sein zu dürfen, wenn es mal funktioniert. Die latente Katastrophenstimmung der Zeit, die letzten, oft genug schon sentimentalisch verbrämten Zuckungen eines linken Engagements, die zynische Vernünftelei im Sinne Sloterdijks, die Larmoyanz der Intelligenzia – Becker stenografiert das alles mit: „Leute / am Wohngemeinschaftstisch, / wo wieder mal diskutiert wird, ob man / nicht doch besser ausweicht / wegen dem Leidensdruck mit dem Abwasch, / und ’ne Putzfrau, das geht doch irgendwie / nicht, oder wie erlebt ihr das?“

Und er fängt auch diesen unspezifischen Achtzigerjahre-Blues ein. Denn diese Dekade wird ja nicht erst in der Erinnerung von Florian Illies oder auch Frank Goosen melancholisch. Sie war es von Anfang an. Die nachvollziehbare Trauer derjenigen, die eben „post“ sind, zu spät mithin – hier hat sie eine adäquate lyrische Form gefunden: „Leute, / die Abend für Abend durch die Kneipen / irrlichtern wie die Seelen der Toten, / die in ungeweihter Erde begraben liegen: / Wie lange schon den offenen Horizont / nicht mehr gesehn, ein Spielball der Wellen / treiben sie im Häusermeer, festgekrallt / an einer Planke, gerade breit genug / um ein Bier darauf abzustellen“. FRANK SCHÄFER

Uli Becker: „Das blaue Wunder“.Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1985, 140 Seiten, vergriffen

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