mitschriften aus der letzten reihe : Auf dem Maskenball der Kunsthistorikerinnen
Während die Hilfskräfte noch die Stühle in Raum 06 des Zentrums für Literaturforschung aneinander reihten, war schon klar, dass es nicht genug Platz geben würde. Zu prominent der Vortragende. Im Foyer bekam man den Eindruck vom Treff einer Großfamilie: Man kannte sich, die Männer klopften sich zur Begrüßung auf die Schultern und sprachen über die jüngste Italienreise.
Hans Belting, der Direktor des Internationalen Forschungszentrums für Kulturwissenschaften in Wien, sprach über „Das Porträt als europäische Maske“. Auch einige Studenten kamen. Weil die 50 Stühlchen im holzgetäfelten Raum längst nicht ausreichten, war es ihre vornehme Aufgabe, sich auf die Fensterbänke zu setzen. Hatten sie Ausführungen zur folkloristischen Maskenkunst erwartet, lagen sie falsch. Nicht über offensichtliche Masken wolle er sprechen, sagte Belting, sondern über unsichtbare Masken wie Porträts aus der Kunst- und Fotografiegeschichte.
In schwarzem Cordjackett und blauem Hemd stand Belting hinter dem Pult und begann, über „die Knipserei“ zu sprechen. „Warum wollen wir eigentlich unbedingt Fotos von uns machen?“, fragte er. Das Gesicht ist nun einmal der Teil unseres Körpers, der am besten unsere Persönlichkeit widerzuspiegeln scheint, in dem wir uns am ehesten wiederzuerkennen glauben. Kein Wunder: „Mit dem darunter verborgenen Organ, dem Gehirn, identifiziert sich wohl niemand gerne“, unkte Belting.
Mit der Gegenüberstellung zweier Porträts begann der Vortrag: Belting hielt ein Frauenbildnis aus der Renaissance einem fotografischen Selbstporträt der zeitgenössischen Künstlerin Cindy Sherman gegenüber. Das Erstaunliche daran: Sherman wiederholt nahezu perfekt das Setting des Renaissance-Gemäldes: Sie trägt die gleichen Kleider wie die gemalte Frau und imitiert Pose und Mimik. Sherman entlarvt so das Wesen des historischen Porträts als niemals natürliches Abbild der Person, sondern als gestellte Inszenierung. Das Porträt ist der Versuch einer kontrollierten Außenrepräsentation. „Wir sind, was wir scheinen, und wir scheinen, was wir sind“, fasste ein Zuhörer zusammen.
Das Publikum schien zu wissen, wovon Belting sprach – Kunstinteressierte waren unter sich. „Ich beleidige Sie sicher, wenn ich Ihnen sage, was dargestellt ist“, sagte Belting, als er ein Foto des Grabtuchs von Turin, das angeblich einen Gesichtsabdruck Jesu Christi zeigen soll, an die Wand projizierte. Auch die Spezies der Mitschriften-Profis war in großer Zahl vertreten. Notizen wurden meist in Moleskine-Kladden geschrieben. Dominant war die Sakkoträger-Fraktion, die Farben waren gedeckt, viele Frauen hatten sich die Lippen dunkel geschminkt – auch das eine Maske für Belting.
Wir legen uns für unser Gesicht eine solche Maske zurecht, immer im Abgleich mit den gesellschaftlichen Erwartungen. Werden wir fotografiert, nehmen wir eine künstliche Pose ein, um besonders gut getroffen zu werden. Sind wir alleine, suchen wir unser Selbst hinter der Gesichtsmaske – und schneiden vor dem Spiegel Grimassen. Aber natürlich ist auch die Vorstellung, hinter dem Gesicht stecke die wahre Persönlichkeit, ein moderner Mythos. Das Gesicht abzulegen funktioniert einfach nicht – und Ernst Jüngers Forderung „Herunter mit der Maske!“, die er im Dritten Reich an die Juden stellte, entlarvt diesen absurden Gedanken ganz besonders.
Die Gesichtsmaske fällt erst, wenn man stirbt – so die These Beltings. Zurück bleiben ein Totenschädel und ein paar Fotos. Auf denen würde man im Fall gestorbener Kunsthistorikerinnen auf jeden Fall dunklen Lippenstift und ein Moleskine-Buch sehen. KATHRIN KLETTE
Eine Bildungskolumne – in Zeiten von Wissensgesellschaft und strategischer Selbstbewirtschaftung ein Muss. Immer im Zweiwochenrhythmus – bis zum Semesterende.