mein mäuerchen. eine gedenkminute von WIGLAF DROSTE :
Am 13. August 1989 wurde die Mauer 28 Jahre alt; es war der letzte Geburtstag, den dieses nützliche Bauwerk erlebte. Der Dichter Peter Hacks besang es posthum in höchstem Ton: „Wer kann die Pyramiden überstrahlen? / Den Kreml, Sanssouci, Versailles, den Tower? / Von allen Schlössern, Burgen, Kathedralen / Der Erdenwunder schönstes war die Mauer. / Mit ihren schmucken Türmen, festen Toren. / Ich glaub, ich hab mein Herz an sie verloren.“
Diese Verse gefallen mir immer noch – allein schon, weil man die Flennsusensorte Mensch so schön damit ärgern kann. Gab es einen dissidierenden DDR-Dichter, der sich mit Hacks hätte messen können, ohne furchtbar alt auszusehen? Die Mauer war gut – nur das, was es auf der jeweils anderen Seite gab, war Hüchel. Der Konsumismus des Westens war seinem Wesen nach nicht anders als heute, musste sich aber wenigstens semi-humanoid camouflieren. Einen Halsabschneider wie Wolfgang Clement hätte die Bundesrepublik bis 1989 nicht präsentieren können – da hätte noch Norbert Blüm den Honecker vorgezogen.
Seit es die Konkurrenz von drüben nicht mehr gibt, kann die Sozialdemokratie gelackt grinsende Menschenschinder wie Clement in den Ring schicken und tut das auch. Die „Menschenrechte“, von denen bis zum Fall der Mauer unablässig die Rede war, gelten jetzt für alle: Wer noch laufen kann, darf seine Haut auf dem Markt verhökern, soll sich über die Bezahlung aber bitte keine unrealistischen Vorstellungen machen. „Die Würde des Menschen“, auch so ein Klassiker, ist ein Konsumartikel und wird beim Discounter zum Dauerniedrigpreis feilgehalten.
Auch vom Westen aus gesehen war das Land jenseits der Mauer nicht der Hit. Schon bei flüchtigerer Betrachtung erwies sich, dass der DDR-Sozialismus eine deutschbürokratische, muffige, spießige Jägerzaun-Angelegenheit ohne Charme und Swing war. Man brauchte ja nur die albernen Grenzer an der Transitstrecke anzusehen, wie sie röntgenäugelnd und vergnatzt in die Papiere starrten und überall Spionage und Verrat witterten. Die kurzatmig ratternden Fließbänder, auf denen die Reisedokumente genannten Ausweise transportiert wurden, sahen auch nicht aus, als ob sie von Dauer sein könnten.
Aber man soll nicht undankbar sein: Als Bundesdeutscher profitierte ich von der DDR, von ihrer bloßen Existenz, die ein Stachel im Fleisch aller großdeutsch motivierten Widerlinge war. Ein Teil Deutschlands war dem Zugriff des Konsumismus entzogen, das wurmte die Konsumisten fürchterlich, und das wiederum fand ich gut. Dann wurden DDR und Mauer abgeräumt. Es war der Triumph der Trostlosigkeit, es gab kein Anderes mehr, nur noch das eine One-size-fits-all-Deutschland. Der Jubel sah grotesk und fies aus – an plötzlich offenen Grenzübergängen standen Westdeutsche und klemmten Trabantfahrern Zehnmarkscheine und Bananen hinter die Scheibenwischerblätter.
Ich möchte die Mauer nicht wiederhaben, das wäre Unsinn, sie ist perdü. Schlecht über sie zu sprechen aber wäre schäbig. Die Mauer sorgte dafür, dass die von einander getrennten Deutschen Hartz-IV-freier lebten, als sie das wiedervereinigt tun.