mail aus manila : Unser Nationalheld – der kleine Augenarzt aus einer chinesischen Einwandererfamilie
Alle sind stolz darauf, Filipinos zu sein! Wofür nicht zuletzt der gute Doktor José Rizal verantwortlich ist
„Weißt du, wer das ist?“, fragt meine Tochter und deutet mit der Zahnbürste auf einen Aufkleber auf ihrem Regal. Eigentlich soll sie sich bettfertig machen, aber nun hat sie den Sticker entdeckt und vergessen, dass sie sich eigentlich die Zähne putzen soll. „Ja“, antworte ich, „das ist José Rizal.“ „Nein“, antwortet Alice, während ihr Zahnpasta-Schaum die Backe herunterrinnt. „That is our national hero.“ Moment mal, „unser“ Nationalheld? Als fünfjähriges deutsches Mädchen, das seit vier Jahren auf den Philippinen zum Kindergarten geht und dort Englisch lernt, kann man schon mal ein bisschen durcheinanderkommen.
Auf dem Aufkleber ist José Rizal, der auf den Philippinen tatsächlich als Nationalheld gilt. Seine Romane „Noli me Tangere“ (1887) und „Il Filibusterismo“ (1891) sind satirische Angriffe auf die spanischen Kolonialherren und heute Pflichtlektüre für philippinische Schulkinder. Seine Schriften, aber vor allem seine Hinrichtung wegen Rebellion und Landesverrat 1896 waren Auslöser der philippinischen Unabhängigkeitsbewegung.
Rizal war, wie es sich für einen Nationalhelden gehört, ein echter Renaissance-Mensch, der angeblich dreizehn Sprachen beherrschte, unter anderem Deutsch und Sanskrit. Neben seinen literarischen und essayistischen Werken malte und bildhauerte er, hat unter anderem „Max und Moritz“ neu illustriert und Schillers „Wilhelm Tell“ in die philippinische Landessprache Tagalog übersetzt. Außerdem hat er sich eine Reihe von teuflisch schwierigen Geduldsspielen ausgedacht. Und als ob das alles noch nicht genug wäre, war er hauptberuflich eigentlich Augenarzt und studierte in Heidelberg und kurzzeitig an der Charité in Berlin Augenmedizin. Virchow bot ihm angeblich sofort eine Assistentenstelle an, doch Rizal wollte lieber zurück in seine Heimat. Seine Rolle im Unabhängigkeitskampf seines Landes ist mit der von Sun Yat-Sen in China und José Marti in Kuba verglichen worden. Asiatische Politiker von Mahatma Ghandi über Pandit Nehru bis Ibrahim Anwar haben ihn als Vorbild genannt.
Dass sich die Filipinos ihn als Nationalhelden ausgesucht haben und nicht einen Politiker oder General, ist sympathisch. Und sie haben es mit so einer Emphase getan, dass man sich in philippinischen Städten vor lauter Rizalstraßen, Rizalplätzen, Rizalparks, Rizaldenkmälern und Rizaluniversitäten oft kaum zurechtfindet. Selbst einfache Leute, die nie eine Zeile von ihm gelesen haben, sind voller Bewunderung für ihn. Das liegt nicht zuletzt daran, dass seine Bedeutung – die unter Historikern übrigens nicht unumstritten ist – schon Kindergartenkindern wie eben unserer Tochter eingetrichtert wird.
Nationalhelden, nationale Symbole sind von größter Bedeutung in einem Land, das drei verschiedene Kolonialherrschaften über sich ergehen lassen musste und selbst seinen Namen den spanischen Conquistadores verdankt: Die Philippinen wurden nach dem spanischen König Philipp II. benannt. Unter ihm wurde ein Gruppe von 7.000 Inseln zu einem Land zusammengefasst, das genauso gut auch ganz anders hätte aussehen können. So leben auf den Philippinen Angehörige von Dutzenden ethnischen Gruppen zusammen, die 70 verschiedene Sprachen und Dialekte sprechen. Aber alle sind stolz darauf, Filipinos zu sein! Und dafür sind nicht zuletzt Nationalhelden wie der gute Doktor Rizal verantwortlich.
Andere ehemalige Kolonialstaaten in der Region, die unter ähnlichen Bedingungen zusammengewürfelt wurden, bauen sich nationale Monumente wie die Petronas Towers in Kuala Lumpur, zeitweise das höchste Gebäude der Welt, um dem Nationalstolz sichtbare Symbole zu liefern. Im Entwicklungsland Philippinen entfällt solche Gigantomanie mangels Masse, und darum muss Rizal als Aufhänger für das „nation building“ in dem junge Land herhalten, das erst 1947 in die Unabhängigkeit entlassen wurde. „Imagined Communities“, eingebildete Gemeinschaften, hat der Historiker Benedict Anderson in einem einflussreichen Buch solche post-kolonialen Länder genannt, in denen Symbolismus und Nationalhelden als Kitt für höchst inhomogene Gesellschaften dienen müssen.
Und so wurde Rizal, der kleine Augenarzt aus einer chinesischen Einwandererfamilie, zum Wundermann für Vorschulkinder, die heute staunend von seinen Wohltaten für den Filipino hören. Vorher wird beim morgendlichen Fahnenappell die Nationalhymne gesungen. Wenn man aus Deutschland kommt, findet man so etwas komisch. Unsere Tochter findet es selbstverständlich. Sie malt auf ihren Bildern jetzt immer die philippinische Flagge in den Hintergrund, während sie dazu die Nationalhymne trällert – wie sie sagt „das schönste Lied der Welt“.
TILMAN BAUMGÄRTEL