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Archiv-Artikel

lidokino Das World Trade Center liegt in Trümmern. Der Film darüber auch

Cristina Nord ist in Venedig und wird Zeugin, wie Spike Lees „Katrina“-Dokumentation Oliver Stones 9/11-Film zunichte macht

Donnerstag ist Desastertag. Am Nachmittag wird in der Orizzonti-Reihe Spike Lees Dokumentation über den Hurrikan „Katrina“ und dessen Folgen gezeigt. „When the Levees Broke. A Requiem in Four Acts“ ist ein mehr als vierstündiger Film, der mit dem Katastrophen-Management des Bundesstaates Louisiana und mit dem der Bush-Regierung hart ins Gericht geht (siehe taz vom 29. 8.). Gleich im Anschluss läuft Oliver Stones „World Trade Center“ (außer Konkurrenz). Was aus dem Zusammenprall dieser beiden Filme resultiert, ist in seiner Konsequenz fast irritierend: Lees episch angelegte Dokumentation macht Stones Spielfilm über den 11. September 2001 in New York nicht nur lächerlich, sie macht ihn zunichte.

Warum? Weil einem „World Trade Center“ jede Möglichkeit nimmt, den Film anders denn als Vehikel einer stockkonservativen Weltsicht zu betrachten, als Vehikel einer Weltsicht, die zur Grundlage hat, dass es um die Vereinigten Staaten von Amerika bestens bestellt wäre, gäbe es nicht die Bedrohung von außen. Lee aber dementiert genau diese Weltsicht mit „When the Levees Broke“ – und zwar so nachhaltig, dass seine Bilder vom Versagen der Behörden den Traum von der inneren Intaktheit Amerikas begraben. Stone, der vor nicht allzu langer Zeit mit „Comandante“ noch ein Hohelied auf Fidel Castro anstimmte, träumt nun von der Größe und der Strahlkraft der USA, und es ist kein Wunder, dass die Rechte den Film für sich vereinnahmt.

Die Polizisten, die unter Leitung von John McLoughlin (Nicolas Cage) in die brennenden Türme hineingehen, um die dort Eingeschlossenen zu evakuieren, sind Amerikaner wie aus dem Bilderbuch: treu sorgende Familienväter, mutig, mit einem Sinn für Humor gesegnet, der sich daran erfreut, Witze über die bunten Boxershorts eines Kollegen zu machen. Die jeweilige Herkunft der Figuren – ob mexikanisch, deutsch, jüdisch oder italienisch – wird in den Namen und in spezifischen Ausdrucks- und Redeweisen wachgerufen. Dass kein Afroamerikaner in der Polizeieinheit ist, mag den Tatsachen entsprechen („World Trade Center“ bezieht sich auf tatsächliche Geschehnisse), sticht aber umso mehr ins Auge, nachdem man Lees Film gesehen hat – beobachtet der doch mit Bitterkeit, wie wenig sich Amerika für die Afroamerikaner interessiert.

Stone mag viel daran gelegen sein, das Bild eines Melting Pot zu entwerfen, doch tut er dies um den Preis einer signifikanten Leerstelle. Genauso bereitwillig verzichtet „World Trade Center“ auf aktive, starke Frauenfiguren. Die Ehefrauen der beiden Verschütteten, Donna (Maria Bello) und Allison (Maggie Gyllenhaal), dürfen, kaum liegen ihre Gatten unter den Trümmern, nur noch in Begleitung ihrer Väter oder Brüder oder Söhne ins Bild treten. Das ist ein so grauenvoller Paternalismus, dass es mir den Atem verschlägt. Selbst wenn ich sonst Kriterien, die sich aus nichts anderem als der Frage nach der politisch richtigen Repräsentation ableiten, misstraue, so ist der Backlash hier so allumfassend, dass ich gar nichts anderes denken kann als: Willkommen in den 50er-Jahren.

In der Exposition von „World Trade Center“ sieht man die Bilder, die man so oft gesehen hat: die Türme nach dem Einschlag der Flugzeuge. Auch eine der Aufnahmen, in denen ein Mensch aus dem 100. Stock stürzt, montiert Stone in den Film hinein. Diese Aufnahme befremdet: Ich schaue jemandem zu, der noch lebt, von dem ich aber weiß, dass er im allernächsten Augenblick sterben wird. Beziehungsweise: dass er vor fünf Jahren gestorben ist.

Was passiert, wenn diese Bilder Spielfilmmaterial werden? Werden sie konsumierbar? Erneuert sich, was sich an sie knüpfte, als ich sie zum ersten Mal sah? Das Entsetzen, der Schrecken? Oder sind diese Bilder inzwischen nichts weiter als ein Marker, ein Signal: Achtung, jetzt bitte schön so richtig betroffen sein?

Schwierig zu sagen. So viel ist klar: Am Ende von „World Trade Center“ besinnt sich ein Marine außer Dienst seiner soldatischen Wurzeln, schaufelt sich durch Schutt und Staub, packt an und rettet, und schließlich sagt er: „Da draußen muss es ein paar echte Kerle geben, um dies hier zu rächen.“ Im Abspann ist zu lesen, dass die Person, an der sich die Filmfigur orientiert, tatsächlich zwei Jahre lang im Irak kämpfte. Spike Lee weist voller Zorn darauf hin, dass in den vom Hochwasser verwüsteten Häusern in New Orleans noch Monate nach dem Hurrikan Leichen lagen. Einem Film, der die Rettung zweier Verschütteter zelebriert, mag ich kein einziges Bild mehr glauben. CRISTINA NORD