leserinnenbriefe :
Wie sieht der Schulalltag aus?
■ betr.: „Keiner weiß, was Inklusion ist“, taz vom 10. 3. 10
An Schulleitung und LehrerInnen werden ständig neue Anforderungen gestellt. Ich behaupte, dass viele Politiker und auch betroffene Eltern von Kindern mit Behinderungen keine Ahnung davon haben oder es vielleicht auch gar nicht so genau wissen wollen, wie der Schulalltag aussieht und was LehrerInnen zu bewältigen haben. Seit Jahren kommen immer häufiger Kinder in unsere Schulen, die gravierende Defizite im Sozialverhalten, in der Motorik und in ihrer Selbstwahrnehmung haben. Sozialarbeiter, Psychologen, Ergotherapeuten, Ernährungsberater, Yogalehrer, Musik- und Kunsttherapeuten fänden vor Ort ein reiches Betätigungsfeld. Lehrer stoßen bei ihren Bemühungen um Integration verhaltensauffälliger Kinder oft an ihre Grenzen. LehrerInnen in der Grundschule sind heute in erster Linie Sozialarbeiter.
Für Kinder, die begabt sind und die ganz Stillen haben LehrerInnen kaum Zeit. Wie kann unter diesen Umständen ein in seinen Fähigkeiten eingeschränktes Kind zu seinem Recht kommen?
Integration funktioniert nur, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Das bedeutet nicht nur Ganztagsschulen und kleinere Klassen, sondern vor allem in der Eingangsstufe in jeder Klasse und jeder Stunde Doppelbesetzung durch „Assistant Teacher“ – so wie in England, Förderlehrer mit mehr Stunden, außerdem ein Gruppenraum für jede Klasse. Solange diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, kann Integration nicht gelingen und ist nur ein Politikum, wenn sie den Schulen dennoch übergestülpt wird. Und genau das ist zu befürchten.
CHRISTA SABATH-AHRENDT,
Landkreis Göttingen
Plumpe Polemik, nein danke!
■ betr.: „Nur auf Zehenspitzen gehen“, taz vom 10. 3. 10
Mehr als problematisch finde ich Iris Hefets Terminologie von der angeblichen „Schoah-Religion“, die eine Kritik an Israel verhindern bzw. unmöglich machen würde. Genau dieses bewusste Provozieren gegenüber der notwendigen Erinnerung an ein unfassbares und singuläres Verbrechen macht KritikerInnen wie die Autorin oder auch Finkelstein so unglaubwürdig und zugleich so interessant als Kronzeugen für die extreme Rechte. So schreibt das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) treffend: „Dass sich Finkelstein als Jude Angriffe leisten kann, die ansonsten umgehend als antisemitisch identifiziert werden, macht ihn so bedeutend für die rechtsextreme Szene. Als der ‚revisionistische‘ Geschichtsfälscher David Irving bereits Anfang der 90-er Jahre über die ‚Holocaust-Industrie‘ schwadronierte, kam er damit über die engere Szene nicht hinaus. Erst Finkelstein schaffte es, dieses Unwort im etablierten Medien-Diskurs zu verankern.“ Nicht ungewöhnlich also, dass Hefets Beitrag beispielsweise auf der Nazi-Seite „Altermedia“ abgefeiert wird. Berechtigte Kritik ja, plumpe Polemik: Nein danke!
P. CARSTENS, Hamburg
Eine spezifische Perspektive
■ betr.: „Urteil gegen Resozialisierung“, taz vom 10. 3. 10
Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs, die schlechten Therapiebedingungen nicht potenziellen Opfern, sondern prinzipiell den Tätern aufzubürden, ist so falsch nicht. Denn immerhin sind Opfer tatsächlich unschuldig und kaum für den Erfolg oder Misserfolg von Verhaltensänderungen der Täter verantwortlich zu machen. Zumal es bei der Sicherungsverwahrung von Tätern sexualisierter Gewalt nicht um einen allgemeinen Schutz der Gesellschaft geht, sondern spezifisch um den Schutz von Kindern und Frauen – diese Teilgruppen der Gesellschaft stellen den ganz überwiegenden Anteil der Opfer in diesem Deliktbereich dar. Männliche Erwachsene, die Sicherungsverwahrung als übertriebenes Streben nach Sicherheit darstellen und sich – ganz freiheitsliebend – mit einem Restrisiko an Kriminalität zufrieden geben, sprechen also aus einer spezifischen Perspektive.
Diese Perspektive wird in Freiheit-versus-Sicherheit-Diskursen meistens als „normal“ gesetzt. Zum Beispiel, wenn Ron Steinke die Kritik am früher laxeren Jugendstrafrecht platt als Kritik an „Kuschelei“ abtut und das veränderte Bewusstsein für die Situation von Verbrechensopfern übersieht. Ziemlich problematisch, finde ich, denn damit einher geht oft eine eingeschränkte Sichtweise, die nur auf Freiheitsbeschränkungen durch den Staat und zulasten des Individuums schaut. Andere Eingriffe in Freiheiten, z. B. durch Erwachsene in die Freiheiten von Kindern und durch Männer in die Freiheiten von Frauen, geraten dabei schnell aus dem Blick.
Natürlich ist der Staat eine machtvolle Institution, deren Machtausübung begrenzt gehört. Aber ob die Machtposition von Erwachsenen gegenüber Kindern oder das Patriarchat dem in ihrer Wirksamkeit so viel nachstehen? Und ob Eingriffe in die sexuelle Selbstbestimmung nicht ähnlich persönlichkeitsbeschränkend wirken können wie solche in die Bewegungsfreiheit? Die Praxis, Sicherungsverwahrung auch in Fällen von Eigentumsdelikten zu verhängen, ist natürlich absurd und gehört skandalisiert, keine Frage. ULRIKE MÜLLER, Berlin