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Archiv-Artikel

leerstand als öffentliches problem Berlin baut um

Die Innenstadt darf nicht gegen den Stadtrand ausgespielt werden

Die Bevölkerungszahl der Stadt ist annähernd stabil, im Metropolenvergleich hat Berlin konkurrenzlos niedrige Mieten und überdurchschnittlich viel Wohnfläche pro Einwohner. Berlin hat Wohnmilieus, die sich durch moderate Dichte, viel Grün und große Vielfalt auszeichnen. Mit Abstand und im Vergleich mit anderen Millionenstädten betrachtet, hat die Stadt über Jahrzehnte eine im Großen und Ganzen exzellente Städtebau- und Wohnungspolitik betrieben.

Wo liegt also das Problem?

Die Wohnungsknappheit ist Anfang der 90er-Jahre in Leerstand umgeschlagen. Ergebnis des Neubaus und der Modernisierung von Wohnungen innerhalb der Stadt. Ergebnis aber auch des durch exorbitante Steuervergünstigungen bewirkten Baubooms auf den grünen Wiesen des Umlands.

Unter längerfristigem Leerstand versteht man Wohnungen, die länger als sechs Monate leer stehen. Deren Anteil liegt nach den Statistiken der Verwaltung seit einem Jahr relativ konstant bei etwa fünf Prozent, das sind immerhin knapp 100.000 Wohnungen. In einigen innerstädtischen Altbauquartieren sowie in einigen Quartieren der Großsiedlungen Marzahn und Hellersdorf sind die Leerstandsraten allerdings deutlich höher.

Leerstand wird dann zu einem öffentlichen Problem, wenn er die vorhandenen Nachbarschaften gefährdet – wer wohnt schon gern in einem Haus mit vielen leeren Fenstern? Und wenn der Leerstand die Existenz der Wohnungseigentümer – und damit ihre Fähigkeit zur Instandhaltung, Bewirtschaftung und Modernisierung der bewohnten Wohnungen bedroht.

Das waren gute Gründe für ein Stadtumbau-Programm, das öffentliche Mittel für die Aufwertung und den Abriss von Wohnungen in von Leerstand betroffenen Städten der neuen Länder zur Verfügung stellt. Die Frage ist nun: Wo wird in Berlin aufgewertet und wo abgerissen? Eine schlichte Antwort, die in der aktuellen Fachdiskussion einige Protagonisten hat, wäre: Aufwertung der Innenstadt und Rückbau am Stadtrand.

Meines Erachtens ist das zu einfach. Eine der Berliner Stärken ist gerade, dass die Stadt viele kompakte Kerne innerhalb einer Siedlungslandschaft hat. Dazu gehören historische Ortskerne und Gründerzeitquartiere ebenso wie die klar strukturierten Siedlungen der 20er-Jahre und die Kernbereiche der großen Siedlungen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine Vorstellung von der „kompakten europäischen Stadt“, die mit dem Städtebau vor dem Ersten Weltkrieg endet und damit seltsamerweise den größten Teil der gebauten Stadt als „uneuropäisch“ abqualifiziert, entspricht nicht der Realität.

Was ist bei knappen öffentlichen Geldern und eingeschränkten Investitionsspielräumen der Wohnungseigentümer zu tun? Meines Erachtens braucht die Stadt eine ausgewogene Entwicklung zwischen Peripherie und Kern. Keinesfalls darf die Innenstadt gegen den Stadtrand ausgespielt werden.

Erstens muss die behutsame Stadterneuerung der Quartiere der Gründerzeit weitergehen, was punktuelle Entkernung nicht ausschließt. Berlin hat diese Wohnmilieus Mitte des 19. Jahrhunderts ebenso „erfunden“ wie ihre Erneuerung Ende des 20. Jahrhunderts. Das hatte weniger mit Sentimentalität und Geschichtsbewusstsein zu tun, sondern mehr damit, dass diese alten Quartiere in erstaunlicher Art und Weise auf sich verändernde Bedürfnisse reagieren können und große Integrationsaufgaben bewältigen – hier wohnt ein großer Teil der Berliner Bürger mit Migrationshintergrund.

Zweitens sind Berlins Großsiedlungen – egal ob im Ost- oder Westteil der Stadt – mittlerweile zu gewachsenen Stadtteilen geworden. Sie müssen als grüne Städte am Stadtrand stabilisiert und weiterentwickelt werden. Das erfordert: gleichzeitig und je nach Lage differenziert zu erhalten, aufzuwerten, und zurückzubauen.

Der Rückbau von Elf- zu Fünfgeschossern an der Marzahner Havemannstraße zeigt ebenso wie die durchgreifende Modernisierung des Roten Viertels in Hellersdorf, welche zukunftsfähigen Wohnqualitäten erreichbar sind.

Verhängnisvoll wäre, wenn eine Abrissdiskussion oder ein Modernisierungsstopp die durch die Investitionen der letzten 15 Jahre erreichte Wohnqualität und soziale Stabilität in der Innenstadt und in den peripheren Städten aufs Spiel zu setzen würden. Deshalb ist es sinnvoll, wenn Quartiersmanagement und Stadtumbau Hand in Hand gehen. Was den Umfang des Abrisses von Wohnungen betrifft, so scheint es infolge der Berlin-spezifischen Unsicherheiten in der Vorausabschätzung der zukünftigen Wohnungsnachfrage angeraten, lieber dreimal zu messen, bevor man einmal schneidet.

BERND HUNGER

BERND HUNGER (51) ist Stadtplaner und Stadtsoziologe aus Berlin

„Stadtpolitik braucht neue Kraft“: ZUKUNFTSWERKSTADT der Fachkommission Stadtentwicklung in der Heinrich-Böll-Stiftung, 12. November, ab 15.30 Uhr. Informationen und Anmeldung: www.boell.de, drewes@boell.de