kurzkritik : Die köstliche Rathausflanke
Die Ostflanke des Rathauses ist die schönste Seite des bremischen Staatswesens. Ein Gedicht aus gebackenem Stein an Kupfer, dessen Harmonie man erst jetzt ungestört genießen kann, seit sich der Anbau des freudlosen „Neuen Rathauses“ von 1913 gnädig hinter Planen verbirgt.
Im Vergleich mit den rußigen Brutaloquadern der gegenüberliegenden Domfassade betören die Rathaussteine, die die Wärme eines milden Altweibersommers tanken, mit ihrer sympathischen Schrundigkeit. In solchem Licht glimmt das Rathaus in rötlichem Glanz, kunstvoll gesteigert durch zartschwarz lasierte Bänder. Über all dem die seitliche Silhouette des Dachstuhls. Dessen zum Himmel strebende schlanke Gestalt in Grünlich erinnert an eine asiatische Pagode. Noch die banalsten Fallrohre an den Seiten verströmen eine Aura der Ausgeglichenheit – zumal sie die wohltuende Grenze zu dem kleinteiligen Normbackstein des angebauten Neu-Rathauses bilden. Während im Osten alles seine Ordnung hat, wird an der Hauptfassade allerlei Unzucht getrieben. Dort herrscht großer Busenalarm, eine Unbekleidete reitet rücklings auf dem Bischof, dessen Stab im eigenen Hintern steckt. Selbst das Stadtwappen ist hier nicht sicher: Der Bremer Schlüssel dient in der Hand eines Nackten als S/M-Werkzeug, lustvoll schlägt er damit auf ein Lurchwesen ein.
All diese Derbheit ist der jungfräulichen Ostfassade unbekannt. Eine kleine Freitreppe führt zum gotisch gewölbten Portal, das sich, ein Stockwerk höher, in Gestalt eines wohlgegliederten Fenster-Triptychons verdreifacht. Dazwischen vier Figuren, darunter Hiob, der sich gelassen den rasta-artigen Bart zupft.
Nichts ist diesem Bau fremder als die pathetische Pose der so genannten „Herolde“, die sich seit einem Crash mit der städtischen Müllabfuhr glücklicherweise nicht mehr vorm Portal tummeln. Bleibt zu hoffen dass die Reparatur dieser wilhelminischen Clowns, deren kitschiger Kostüm-Historismus nicht einmal ästhetischen Charme atmet, der Staatsverschuldung zum Opfer fällt. Henning Bleyl