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Archiv-Artikel

kurzkritik: sofia hultén im künstlerhaus am deich Leichtfüßiger Schrecken

Es ist nur ein Karteischränkchen, ein ziemlich abgefucktes sogar: Links oben hat eine Billigkerze gestanden. Lange Stearinnasen ziehen sich über drei der 15 Gefache. Rechts unten klebt ein Schalke-Aufkleber. Überall sind Kratzer und Abschürfungen im grasgrünen Lack. So hat das Möbel ausgesehen, als Sofia Hultén es auf dem Sperrmüll entdeckt hat. Genau so sieht es auch jetzt aus: Es steht im Künstlerhaus am Deich. Ein Ready-made? Nix da!

Nach allen Regeln der Kunst hat Hultén das Sperrholzschränkchen restauriert, die Sticker entfernt, mit Heißluftföhn und Spachtel den Lack beseitigt, Messinggriffe angebracht – am Ende stand es da, wie frisch aus der Fabrik. So existiert es aber nur noch als Dia-Projektion. Denn anschließend – die Videos von diesem Prozess laufen, denen von der Rückversetzung in den Ur-Zustand gegenüber gestellt, auf zwei Bildschirmen – hat die Schwedin die Griffe abgeschraubt, das Holz grün lackiert. Ihm die Spuren seiner Lebensgeschichte zurückgegeben. „Mutual Annihilation“ hat Hultén die Arbeit genannt, deren Einzelschritte sich vollkommen aufheben – in Nichts aufheben. Und sie ist ein Witz. Aber eben auch: Eine Meditation. Denn die künstliche Wiederherstellung der Narben im Lack fragt automatisch: Was hat sie in Wirklichkeit verursacht? „Mich interessiert“, sagt Hultén, „das Individuelle“. Sie findet es, ganz ohne sozialkritischen Vorsatz, an einem Gegenstand, der aus der Wertschöpfungskette gelöst, ins Rauschen des Namen- aber eben nicht Geschichtslosen, in den Schrott, abgedrängt war: Das hat, so leichtfüßig die Arbeit daherkommt, etwas zutiefst Beängstigendes. Benno Schirrmeister