kunstquartier venedig: Ökonomie, Migration, Sex, Macht, Gewalt: Thank God, it’s MTV
Entertainment als High-Tech-Event
Der Anzug, die große Nase, der graue Seitenscheitel, alles stimmt an dem Mann. Ja, kein Zweifel, das ist, das muss, das kann nur Joseph Fischer sein. Oder so ähnlich.
Die Verwirrung nimmt zu. Nach drei Tagen, die man ununterbrochen im Kunsttross verbracht hat, mischen sich Bilder, Dinge und Menschen im Kopf zu einem Brei, der schwer auf die Schläfen drückt. Am Mittag hat man mit einer britischen Journalistin französisch gesprochen, nachdem sie auf Italienisch gefragt hat, wo es ins Arsenal zu Harald Szeemanns Ausstellung „Plateau der Menschheit“ geht. Abends wird man von einem neuseeländischen Künstler seinem Kollegen aus Wellington als Kritiker vom Tagesspiegel vorgestellt, der daraufhin Grüße von einer Frau in San Francisco bestellt, die sich demnächst in Berlin melden wird. Bret Easton Ellis hätte vermutlich seinen Spaß an der leer laufenden Betriebsamkeit, mit der während der Biennale dauernd E-Mail-Adressen und Visitenkärtchen hin- und hergeschoben werden zwischen Leuten, die einander am nächsten Tag nicht wiedererkennen.
Nur Vera vergisst man nicht. Sie sitzt mit geschlossenen Augen auf einer grauen Bank in einer kleinen Koje im Arsenal. Alle paar Minuten wechselt sie die Position, nimmt einen Stickrahmen zur Hand und zieht mit einer Nadel imaginäre Fäden durch ein Stück Stoff, auf dem ihr eigenes Gesicht abgebildet ist. Früher hieß Vera Veruschka von Lehndorf und war das wohl berühmteste Model der Sechzigerjahre. Antonioni hat mit ihr damals die Fotosessionszene in „Blow Up“ gedreht. Wahrscheinlich ist Vera inzwischen an die sechzig Jahre alt und sieht trotzdem noch makellos aus, wie eine Hohepriesterin des Glam. In Venedig posiert sie während der Eröffnung für den jungen Mailänder Künstler Francesco Vezzoli, dessen Arbeiten vom verblichenen Glanz weiblicher Filmstars handeln.
Offenbar sucht die Kunst, die Szeemann für das Begleitprogramm zu den Nationenpavillons ausgewählt hat, den Anschluss an Hollywood. Der White Cube ist out, die Black Box ist in. Dafür spricht nicht bloß die Masse an Videos, die aus dem Arsenalgebäude eine zerklüftete Guckkastensiedlung machen. Auch die Art, in der zur Zeit Filme im Kunstkontext produziert werden, zeugt von einem Strukturwandel. Es geht um Entertainment als High-Tech-Event, die Budgets sind entsprechend: Chris Cunningham zeigt seinen Cyborg-Björk-Clip; die Schweizer Com & Com parodieren die Wilhelm-Tell-Saga im Stil einer X-Files-Folge; und der US-Shootingstar Paul Pfeiffer filmt mit Überwachungskameras eine Dusche aus denselben Blickwinkeln, die Hitchcock für „Psycho“ verwendet hat. Das ist hübsch anzusehen, manchmal lustig und oft schnell wieder vergessen. Die Verunsicherung findet kaum mehr beim Betrachter statt, stattdessen wird sie gleich auf der Leinwand stellvertretend für ihn mitinszeniert.
Zwischen lauter Bildmaschinen fehlt der face-to-face-Kontakt, das Gefühl für Differenzen: Finnische Girls weinen bei Salla Tykkä über ihre Freunde, die lieber Cowboys wären; doch nach vier Minuten ist das Teenagedrama dann auch schon vorbei und man zieht unbeteiligt weiter. War’s das schon? Wo in den vergangenen Jahren ständig Reader voll mit sozialwissenschaftlich genau recherchiertem Material auslagen, wo Diskussionen über Interaktion, Institutionskritik und Partizipation geführt wurden, wird das Publikum nun mit moving images bombardiert, die es stumm anstarrt, bis der nächste Film anfängt. Dabei zerfällt die Welt in immer perfektere Schnittfolgen, in denen für ein paar Sekunden alles mit allem zusammenpasst – Ökonomie, Migration, Sex, Macht, Gewalt: Thank God, it’s MTV. So verschwindet auch ein Rest an Widerspruch, der Realität durch politische oder wenigstens alltägliche Erfahrungen definiert. Über alles legt sich ein Schleier aus Bildern. Am Ende hat schlimmstenfalls Ellis Recht mit seiner Beschreibung in „Glamorama“: Langsam gleiten wir die Oberfläche der Dinge hinab. Kein Wunder, dass man sich nichts mehr merken kann, auf dem Weg nach unten.
HARALD FRICKE
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