kulturhauptstadt im kasten (4) : Die Debatte zur Bremer Bewerbung – heute: Kulturwissenschaftler Rainer Stollmann, Universität Bremen
Den Streit bereichern und pünktlich beenden
Bremen bewirbt sich als Kulturhauptstadt 2010. Aber wie? In unserer Serie beziehen Kulturschaffende, Mäzene und Entscheidungsträger der Stadt Position. Heute: Professor Rainer Stollmann, Uni Bremen
Die Kulturhauptstadt-Sache, von der jetzt alle Parteien begeistert sind, wurde von den Grünen angestoßen. Helga Trüpels Lieblingsbuch ist Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“. Dessen Rahmenhandlung bildet die so genannte „Parallelaktion“: Im Jahre 1916 waren zwei Regierungsjubiläen, das 70. des österreichischen Kaisers Franz Joseph –des Vaters von „Sissi“ – und das 30. des deutschen Kaisers Willem zwo. Im Jahre 1912 tritt, ganz ähnlich wie zur Zeit in Bremen anlässlich des Projekts „Kulturhauptstadt“, die gute Gesellschaft aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Kultur zusammen, um eine gemeinsame würdige Feier zu planen. Auch hier gibt es Meinungsverschiedenheiten zwischen Anstoßern, Liberalen, Konservativen, Realisten, Vielvölkerstaatsvertretern. Auch hier suchen alle nach einer zündenden Idee und sind guten Willens. Auch hier ist es die Zeit des Vorkriegs.
Natürlich stimmen die Dimensionen des Vergleichs nicht: Die „Parallelaktion“ ist etwas bedeutender als die „Kulturstadt“, und der Erste Weltkrieg etwas bedeutender als der zweite Golf- und eventuell der zweite Korea-Krieg. Heute planen wir alle – bei stark divergenten Positionen im einzelnen – die Kulturstadt, und morgen sind wir alle – bei stark divergenten Positionen im einzelnen – gegen den Krieg. Das hat doch nun wirklich nichts miteinander zu tun!
Also gehen wir zur Realpolitik über, die gegen Ironie, das heißt, gegen die Einsicht, dass alles mit allem zusammenhängt, völlig immun ist. Lassen wir zunächst beiseite, dass Großprojekte wie dieses immer zwei gegensätzliche Reaktionen hervorrufen: Angst (dass mir von dem Wenigen, das der Staat mir gibt, etwas genommen wird) und Gier (dass ich nicht dabei sein könnte, wenn verteilt wird). Und wenden uns dem zu, was alle bisher Streitenden, Anstoßer und städtische Administration eint: Es komme auf die richtige „Mischung“ an, sagen alle - Bürgerkultur, Museenlandschaft, Hanse, Partnerstädte, Kaufmannskultur, lebendige Kulturszene plus weitere „Besonderheiten“ dieser Stadt; man müsse eine Mischung von Event- und gewachsener, großer und kleiner Kultur aufbieten. Und: es müsse durch die Bremer Bevölkerung „ein Ruck“ gehen (Trüpel), sie müsse in „Fieber“ versetzt werden (Senator Böse).
(1) Was die wunderbare Stadtkultur betrifft – bei der die CDU in Richtung Altes Rathaus, Universum und Science Park denkt, die Grünen eher in Richtung Stadtmusikanten (offene Stadt, Bremer Liberalität), hat sie historisch eine dunkle Unterseite. Dazu muss man den Blick einmal von den niedlich blöden Stadtmusikanten abwenden auf die Eulenspiegel-Geschichten, die in Bremen spielen. In einer von ihnen scheißt dieser „Rächer der Bauern“ den Bremer Kaufleuten auf ihr Schaffermahl! Fast nirgendwo in Europa ist das Verhältnis von Stadt und Land so fremd bis feindlich wie in Deutschland. Heutige Spuren dieses über Jahrhunderte verdorbenen Verhältnisses finden sich in der Verkehrspolitik (die Bahn koppelt das Land ab, fährt nur noch „intercity“), in Fernsehen und Radio (deren provinzielle Ödnis von den Metropolen aus betrieben wird), und, speziell für Bremen, in der Tatsache des so genannten „Speckgürtels“, der die Existenz dieser Stadt bedroht: Die Rache der Provinz an den arroganten Städtern! Der Aufstieg Bremens ist nicht nur dem kaufmännischen Wagemut in der Welt zu verdanken, sondern auch der bürgerlichen Feigheit und dem Opportunismus, wenn es gegen die Nachbarn ging: die Stedinger (1234), die freien friesischen Indianerrepubliken (über Jahrhunderte). Daher wäre es gut, wenn das „Oberzentrum“ Bremen seine Nachbarn – und nicht nur Worpswede – kulturell an sich bände und in die Kulturstadt-Planungen mit einbezöge.
(2) Menschen, die selten oder keine Bücher lesen, nicht in Galerien, Museen oder ins Theater gehen, haben doch auch Kultur, oder nicht? Sie leben ja irgendwie zivilisiert, und wie sie leben, das ist ihre Kultur. Das heißt, der Streit zwischen „Anstoß“ und Senat muss um Stimmen aus dieser Gegend bereichert werden: Musikszenen, Theaterszenen, Stadtteilinitiativen, kleinere Institutionen, Schulen, Kindergärten, Sportvereine, Fahrradfahrer, Sammler aller Art, Gewerkschaften, Parzellenliebhaber, Autoren, Fotografen, Künstler, Studenten, Kulturvereine, Minderheiten. Da hat der Innensenator völlig recht: „...die ganze Stadt muss einbezogen werden.“ Also, los: Fragen wir die alle mal, was sie beitragen wollen. Initiieren wir das dezentrale Kulturstadt-Palaver!
Diese Entfaltung einer kulturellen Öffentlichkeit muss bis Weihnachten beendet werden. Das heißt: Diese Art von Streitkultur muss nie beendet werden, aber sie muss sich zur Erreichung des gemeinsamen Zieles, europäische Kulturstadt zu werden, strategisch einigen und sich als Partei der Bremer Bewerbung verstehen.
Die Chancen Bremens steigen in dem Maße, wie es gelingt, in einem kommunikativen Prozess des vor uns liegenden Jahres die Monster-Komplexe „Gier“ und „Angst“ auf ihre wirklichen, kooperationsfähigen Motive zu reduzieren und davon möglichst viel in eine produktive kulturpolitische Allianz einzubinden.
Rainer Stollmann