kuckensema: auf bremens leinwänden : In „Die Mitte“ liegt das Zentrum Europas am Rande
Wo genau liegt der geographische Mittelpunkt Europas? Ein heikles Thema, denn ein Dutzend Orte erheben Anspruch auf ihn. Und dabei streiten nicht etwa Nachbargemeinden darum, ob er nun auf der einen oder der anderen Seite der Ortsgrenzen liegt, sondern die jeweils genauestens berechneten Mitten sind bis zu zweitausend Kilometer voneinander entfernt. Zwischen der Pfalz und der Ukraine gibt es gleich mehrere Markierungssteine, die das Zentrum des Kontinents jeweils auf den Meter genau festlegen.
Der polnische Dokumentarfilmer Stanislav Mucha sucht sich seine Themen auf der Landkarte. Vor drei Jahren hatte er großen Erfolg mit „Absolut Warhola“, einem Porträt des kleinen, verschlafenen Dorfes in Rumänien, aus dem die Familie von Andy Warhol stammt. Von den vielen Wodkaflaschen, die in dem Film auftauchten, hatte der Regisseur selber auch einige geleert, aber da er dies auch nie zu kaschieren versuchte, ist seine eher subjektive Art des Filmemachens durchaus legitim – und dazu noch sehr unterhaltsam.
Mit der gleichen Methode hat er nun auch „Die Mitte“ gedreht. Und Deutschland war ihm dabei wohl zu nüchtern, denn die Orte, die hier den so umkämpften Titel für sich beanspruchen, werden in wenigen Einstellungen abgehandelt. Ein Autofahrer in behauptet noch schnell, die Mitte Europas liege in „Essen“ und gleich springt der Film schon ins Österreichische Braunau am Inn, wo Napoleon einst die Mitte seines Europas ausrief.
Aber wirklich interessant wird die Reise erst im Osten. Hier findet Mucha wieder die seltsamen Vögel, die ihm gerne ihre Geschichten in die Kamera erzählen. In Litauen erzählt einer von seinen Verwandten, die sich allesamt aufgehängt haben, in Masuren versinkt ein Ortsvorsteher im Sumpf bei dem Versuch, mit einem Kompass und esoterischem Wissen den Mittelpunkt zu finden. Spätestens nun wird klar, dass Mucha nicht die Mitte, sondern die Peripherie von Europa sucht. Er zeigt, wie ärmlich die Menschen in den Ländern des ehemaligen Ostblocks leben, wie skeptisch sie ihrer politischen und ökonomischen Europäisierung entgegensehen.
Der Film verliert dabei sein eigentliches Thema zunehmend aus den Augen, aber Mucha ist nun mal ein Meister des Abschweifens. Wenn er in Rumänien einen Wunderheiler findet, dann lässt er sich halt vor laufender Kamera von ihm behandeln, und wenn er bei Vilnius ein Labyrinth aus Tausenden von kaputten Fernsehern entdeckt, wäre er ja schön dumm, wenn er sie nicht auch noch zeigen würde. Wenn man sich darauf einlässt, hier mit einem etwas unordentlichen Dokumentaristen auf Fahrt zu gehen, dann hat man seine Freude an diesem Film.
In seinem hinteren Drittel ist etwa eine Sequenz versteckt, die für sich genommen ein wunderbarer Kurzfilm geworden wäre. Mucha hat einfach seine Kamera in einen Kiosk im ukrainischen Rachiv gestellt, der von der kleinen, alten Raja betrieben wird, und so sehen wir minutenlang zu, wie sie Zeitungen mit Namen wie „Nachrichten der Miliz“, „Rio“, „Der Abend des Hündchens“ und „Die Mitte Europas“ verkauft und dabei ein wenig mit den Kunden schwätzt. Ein Stammkunde ist Ernest Neumann, der letzte Jude des Ortes, und ihm folgt die Kamera in seine Wohnstube, wo er auf deutsch „Oh, Susanna“ und dann mit Tränen in den Augen ein Lied auf jiddisch singt. Diese Momentaufnahme aus der sommerlichen Ukraine des Jahres 2003 ist einerseits der schönste Fund Muchas, wirkt aber auch neben den anderen Sequenzen des Film wie ein Fremdkörper. So wie die Reise zerfranst auch sein Film zum Ende hin, aber immerhin wird die Mitte Europas dann doch noch mit Hilfe eines GPS-Systems in einem Gestrüpp in Litauen gefunden. Wilfried Hippen
Heute bis Sa um 20.30 Uhr sowie am Mo & Di um 18.00 Uhr im Kino 46 (OmU)