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Archiv-Artikel

kleine schillerkunde (12) Tief in der Philisterei

Von Schiller oder von Goethe? Wie die Xenien 1796/97 die literarische Welt erschütterten

Dem zeitgenössischen Publikum galt Schiller mehr als der zehn Jahre ältere Goethe. Schillers Dramen wurden allenthalben gespielt, und er war Professor, der in Jena Vorlesungen gehalten, die ästhetische Theorie der Klassik geliefert und eine Geschichte des Dreißigjährigen Krieges verfasst hatte. Goethes pseudowissenschaftliche Schriften über Knochen, Farben und Gesteine waren dagegen Liebhabereien, an denen Fachleute unumwunden scharfe Kritik übten. Auch literarisch enttäuschte Goethe seit „Werther“ und „Götz“ immer mehr.

Im Vormärz, als Goethe schon tot war, fällten auch die freiheitlichen Demokraten ihr Urteil zugunsten Schillers, der sich, Adelstitel hin oder her, stets der politischen Vereinnahmung widersetzt hatte. Die Anhänger des Fürstenknechts Goethe sammelten sich künftig im Lager der Konservativen. Solange gekrönte Häupter in Deutschland den Ton angaben, bewegten sich diese Lager nicht. Thomas Mann, der literarische Paradephilister der Weimarer Republik, popularisierte Goethe anschließend fürs ganze restliche 20. Jahrhundert beim mehr oder weniger gebildeten „Bildungsbürgertum“. Schiller wurde auf Rang zwei verwiesen.

Goethe oder Schiller? 1794 lag diese Frage noch in weiter Ferne. Schiller plante gerade, in Jena eine literarische Monatsschrift mit dem Titel Die Horen herauszugeben, und suchte Mitarbeiter. Goethe machte mit Freuden mit, denn berühmte Gelehrte der Zeit waren ebenfalls an den Horen beteiligt: Herder, Fichte, Schlegel und die Humboldt-Brüder. Ein großes Publikum fand die hochgeistige Zeitschrift jedoch nicht. Nach drei Jahren musste der Verleger Cotta sie wieder einstellen. Schiller und Goethe, einander inzwischen freundschaftlich verbunden und auf gleicher poetischer Wellenlänge, schworen allen Kritikern Rache. Vor allem dem Anführer der Berliner Aufklärer, dem Autor und Verleger Friedrich Nicolai.

„Nicolai“, schrieb Schiller, „sollten wir aber doch von nun an in Text und Noten, und wo Gelegenheit sich zeigt, mit […] Geringschätzung behandeln.“ Goethe entsann sich seiner Epigramme für den Schiller’schen „Musenalmanach“ des Jahres 1796 und regte an, in der Art der „Xenien“ (Gastgeschenke) des römischen Dichters Martial über alles Verachtenswürdige im literarischen Deutschland Gericht zu halten und die Texte im „Musenalmanach“ zu publizieren.

Schiller war Feuer und Flamme und antwortete: „Der Gedanke mit den Xenien ist prächtig und muss ausgeführt werden. Ich denke, wenn wir das Hundert voll machen wollen, werden wir auch über einzelne Werke herfallen müssen […]“ Die Gesamtheit ihrer Feinde wurde attackiert, getreu dem Motto: „Lange neckt ihr uns schon, doch immer heimlich und tückisch, / Krieg verlangtet ihr ja, führt ihn nun offen, den Krieg.“ Die 414 Xenien erschütterten die literarische Welt. 1796/97 beherrschten sie das literarische Tagesgespräch. Nur um sie lesen zu können, wurde der „Musenalmanach“ gekauft. Später folgten noch weitere unter dem Titel „Votivtafeln“.

Auf Nicolai als Reiseschriftsteller war gemünzt: „Nicolai reist noch immer, noch lang wird er reisen, / aber ins Land der Vernunft findet er nimmer den Weg.“ Aus heutiger Sicht, da etwas erst bissig heißen kann, wenn es eine Verleumdungsklage erwarten lässt, ist das nicht mal ein Bellen. Auch dass aus Nicolai bald „Nickel“ wurde, verschärfte die Texte kaum. Über Nicolais Buch mit Anekdoten von Friedrich II. schrieben die Krieger: „Von dem unsterblichen Friedrich, dem einzigen, handelt in diesen / Blättern der zehenmalzehn tausendste sterbliche Fritz.“ Nun ja, das ist schon stärker. Nicolais „Allgemeine deutsche Bibliothek“ indes erhielt das Prädikat: „Zehnmal geles’ne Gedanken auf zehnmal bedrucktem Papier, / Auf zerriebenem Blei stumpfer und bleierner Witz.“ Wow – beinahe scharf!

Was aber war in diesen Distichen von Schiller und was von Goethe? „Man müsste wirklich selbst noch tief in der Philisterei stecken“, sagte Goethe in der Rückschau, „wenn man auf die Entscheidung solcher Zweifel die mindeste Wichtigkeit legen wollte.“ Anhand eines Exemplars des „Musenalmanachs“, in dem Schillers Ehefrau „philiströs“ vermerkt hatte, wollten Schillerforscher die Mehrzahl der Distichen, vor allem die meisten der „schärferen“, Schiller zuschreiben. Ob er jedoch Inhalt oder poetische Form lieferte, muss nach Goethes Angaben zweifelhaft bleiben: „Wir haben viele Distichen gemeinsam gemacht, oft hatte ich den Gedanken und Schiller machte die Verse, oft war das Umgekehrte der Fall.“ Fanden die beiden Heroen ihre Werklein vielleicht selbst so kraft- und salzlos, dass es ihnen besser vorkam, das Mäntelchen des Schweigens über ihre genauen Tatanteile zu breiten? Zu verstehen wäre es. TOM WOLF