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Archiv-Artikel

kirchner, rückgabe etc. Umkehrder Beweislast

Die CDU-Fraktion erwägt einen Misstrauensantrag gegen Kultursenator Thomas Flierl, weil er „die Öffentlichkeit umgangen“ und Berlin einen „schweren ideellen und materiellen Schaden“ zugefügt habe, so deren kulturpolitischer Sprecher Uwe Lehmann-Brauns. Grünen-Politikerin Alice Ströver sprach von einem „kulturpolitischen Versagen“ Flierls. Allseitige Empörung also, beim politischen Personal anlässlich einer Anhörung im Kulturausschusses des Berliner Landesparlaments zur Restitution von Ernst-Ludwig Kirchners „Berliner Straßenszene“. Die Rückgabe an die Erbin des ursprünglichen Eigentümers Alfred Hess war zunächst sang- und klanglos über die Bühne gegangen. Die Empörung korrespondiert mit der allseitig ausgebliebenen Empörung anlässlich Flierls Verhandlungen in Sachen F.C. Flick Collection. Die Zeit des Nationalsozialismus und die daraus resultierenden Folgen sind ein ganz und gar abgespaltener, der politischen Vernunft absolut unzugänglicher Bereich im gesellschaftlichen Bewusstsein der Stadt Berlin. Daher ist man nun auch beleidigt wie etwa Klaus Wowereit, der pampig zur Kenntnis gibt, er sei nicht bereit, Geld für den Rückkauf „eines so horrend teuren Bildes“ zur Verfügung zu stellen.

Hat die Witwe von Alfred Hess das Kirchner-Gemälde 1937 aus mittelbarem Zwang heraus verkauft, wie die Erbin argumentiert? Oder hat sie das Bild aus wirtschaftlichen Gründen veräußert, wie man es in Berlin gerne glauben möchte, aber nicht wirklich belegen kann? Es gibt Argumente für eine Veräußerung aus wirtschaftlichen Gründen, zu einem damals angemessenen Kaufpreis von 3.000 Mark. Gleichzeitig existiert eine eidesstattliche Erklärung der Witwe Thekla Hess aus dem Jahr 1958, in der sie von der erzwungenen Herausgabe des Kirchner-Bildes und anderer Gemälde spricht.

Vor 2001 hätte die Beweislast bei der Erbin gelegen. Nun liegt sie beim aktuellen Besitzer, in diesem Fall, dem Land Berlin. Diese Umkehr hat die Washingtoner Erklärung herbeigeführt. Zuvor stellten sich deutsche Museen grundsätzlich erst einmal stur und negierten jeden Anspruch auf Rückgabe. Diese bequeme Situation ist vorbei.

Nun gilt es komplex zu agieren. Aufgrund mangelnder Belege sind die Ansprüche der Erbin von Berliner Seite her kaum zu bestreiten – da hat Thomas Flierl wohl Recht. Doch selbst wenn es strategisch nicht hilft, taktisch ist es immer richtig, kämpferisch aufzutreten. Wer nach heroischem Einsatz ein Bild verliert, dem kann kein Vorwurf gemacht werden. Dafür bedürfte es aber einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Hinterlassenschaft, die in Berlin nirgendwo zu erkennen ist. BRIGITTE WERNEBURG