jazzkolumne : Du musst es selber machen!
Auch 40 Jahre nach der Oktoberrevolution im Jazz kämpfen die ehemaligen Umstürzler weiter
Für den Bassisten und Keyboarder Alan Silva begann alles mit der so genannten Oktoberrevolution im Jazz, die 1964 in New York stattfand. Es ging um die Positionierung des Musikers als Künstler. New York war das Zentrum der Maler, Musiker, Kritiker, Tänzer und Literaten. Und wer nicht wie der 1939 geborene Silva schon in New York lebte, musste dahin ziehen, wenn er etwas von der Energie und Kreativität mitbekommen wollte, die es damals nur dort gab. Der Trompeter Bill Dixon und der Pianist Cecil Taylor wurden Silvas Weggefährten. Es kam vor, dass sie ein ganzes Jahr probten, nur um ein einziges Konzert zu geben. Das war die Zeit, als sie nur in den Coffee-Shops ihre Musik aufführen konnten, während die Clubs Dizzy Gillespie und Sonny Rollins buchten und den Silvas dieser Welt nur sonntagnachmittags oder montags einen Gig gaben, wenn die Stars freihatten.
Bill Dixon kannte damals einen Mann, der ein Kaffeehaus in der 91. Straße besaß, das Cellar Café, und für ihn sollte er dort eine Konzertreihe organisieren. Auf die Bühne stellte er dann junge Typen wie Silva und andere Freunde, die New Music machten. Jeder konnte so lange spielen, wie er wollte, und der Eintritt sollte billig sein – das war das Konzept. Man konnte Kaffee trinken und Donuts essen und sich Musik anhören, die es nirgends sonst gab. Man wollte so Interesse wecken für eine neue Musik, die von den etablierten Clubs nicht unterstützt wurde. Während jener viertägigen Großveranstaltung fanden an die 40 Konzerte und Diskussionsrunden zum Thema „New Thing“ statt, und mehr als 700 Leute drängelten sich in dem kleinen Cellar Café. Der Titel Oktoberrevolution kam von einem befreundeten Regisseur, Peter Sabino. Man brauchte eine Headline für die Werbung in der Village Voice, es war Oktober, und es ging um eine Revolution gegen den zeitgenössischen Mainstream.
Nach jenen vier Tagen wurde es dann sehr kompliziert. Die Konzerte waren überfüllt gewesen, Clubbesitzer und Kritiker hatten vorbeigeschaut, und Dixon hatte bewusst darauf verzichtet, Big Names als Lockvogel für diese Konzerte zu engagieren, weil man ja gerade Selbstständigkeit vorführen wollte. Taylor und Dixon wollten die totale Kontrolle über die Musik, sie wollten sie nicht nur kreieren, sondern sie auch besitzen: „You gotta create it yourself!“ An einem der folgenden Abende saßen Cecil Taylor und Dixon zusammen und beschlossen, eine Organisation von Musikern zu gründen, die ihr Geschick in die eigene Hände nehmen. So entstand die Jazz Composers’ Guild, und es folgten unzählige kleine Konzertreihen. Doch die Oktoberrevolutionäre scheiterten am Widerstand des Jazz-Establishments, wie auch am mangelnden Kollektivbewusstsein zahlreicher Aktivisten, und die Sache zerlief sich. Für viertausend Dollar ließ sich Dixon später seinen Namen als Markenzeichen schützen, in seiner Bill Dixon TM Incorporated wurde er sein eigener Angestellter, eine Frage des Prinzips.
Alan Silva spielte die zweite Hälfte der Sechzigerjahre mit Cecil Taylor. Etwas später dann, Anfang der Siebzigerjahre, gründeten der Bassist Sirone und der Geiger Leroy Jenkins, beide galten damals noch als Newcomer in New York, das Revolutionary Ensemble, dem sich auch der Schlagzeuger Jerome Cooper anschloss. Dieses Trio sollte ganz wesentlich den Sound des Free Thing in den Siebzigerjahren prägen, Titel wie „Vietnam“ und „The People’s Republic“ machten zudem ganz klar, wo diese Musiker politisch standen. Vielleicht kennt man Jenkins auch von Archie Shepps „Black Gypsy“ aus seiner Zeit mit Ornette Coleman, Roland Kirk oder Cecil Taylor.
Heute zählt der Geiger und Komponist Leroy Jenkins zu den Ausnahmeerscheinungen der zeitgenössischen Szene. Nach dem Revolutionary Ensemble, das sich 1977 auflöste, gab er Solokonzerte, komponierte Werke für Symphonieorchester und Electric Ensemble und, und, und. „Urban Blues“ (1984) und „Live“ (1992) waren zwei wichtige Aufnahmen für das Black-Saint-Label, „Live“ wurde aufgenommen im „P.S. 122“ in New York. Auf die tragbare Digitalrecorder-Qualität dieser Aufnahme anspielend sagte Jenkins damals, dass jeder Raum einen Klang habe. Dieser hörte sich ein bisschen so an, als sei ein Gully vor dem Zerbersten, als drohe die New Yorker Schlammwoge einen wegzuspülen, als könnten Wasserratten einen Gospel anstimmen, als käme die Ebbe nach dem Blues. Kurz: hoch spannende Details aus der Free Music der Neunziger.
Etwa an dieser Stelle kommt nun William Parker, von Alan Silva als der Bassist der Nach-Vietnam-Ära bezeichnet, ins Spiel, der mit seiner Frau Patricia zusammen das New Yorker Vision-Festival organisiert. Bei diesem Konzertevent für kreative Musik kam es im Mai dieses Jahres zu einem, ja, Re-Union-Konzert des Revolutionary Ensemble, das nicht nur 700 Zuhörer wild auf mehr machte, sondern das Label Pi-Recordings auf die Idee brachte, sofort eine neue Studio-CD des Trios aufzunehmen.
Vom Revolutionary Ensemble gibt es seit kurzem die 1975 veröffentlichte Platte „The Psyche“ auf CD (mutablemusic.com), und wenn man die hört, ahnt man schon, welch inspirierende Lawine da bald ins Rollen kommen könnte. Bill Dixon spielt am 31. August im Bahá’í Center in New York, Leroy Jenkins und Alan Silva treten beim „m-cluster“-Festival auf, das am 3. und 4. September in der Akademie der Künste in Berlin stattfindet.
CHRISTIAN BROECKING