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Archiv-Artikel

jazzkolumne Der Meister spricht von oben

Mit „The Immeasurable Equation“ legt der Sun-Ra-Forscher Hartmut Geerken ein Buch mit Lyrik und Prosa des Free-Jazz-Pioniers vor

Meine Worte sind Musik und meine Musik ist Wort – wer so etwas sagt, wurde nicht von einer Frau geboren und plante, nie zu sterben. In dem neuen Buch des Sun-Ra-Forschers und -Archivars Hartmut Geerken, „Sun Ra – The Immeasurable Equation“ (Books on Demand), das auf 530 Seiten die gesammelte Lyrik und Prosa des Künstlers vorstellt, erfährt man, dass Sun Ra sich von Anfang an Sun Ra genannt haben will. Schon in der Schule sollen seine Peers seinen Namen – Ra, Ra, Ra – gerufen haben, wenn es darum ging, ein Ballspiel zu gewinnen. An anderer Stelle schreibt Sun Ra, dass die Segregation bei ihm bewirkt habe, dass sein Wissen über die Welt der Weißen sehr oberflächlich war.

In zahlreichen Gedichten ist die Erfahrung des Andersseins, die Lebenswelt des schwarzen Amerikas, Ausgangspunkt für seine Spekulationen und Meditationen, die Geerken übrigens für unübersetzbar hält und also im Original belassen hat. Vor zehn Jahren hat Geerken schon eine fulminante Sun-Ra-Hommage veröffentlicht, „Omniverse Sun Ra“ (Waiteawhile). Mit dem Textbuch ist jetzt ein jahrelang vorbereitetes, akribisch recherchiertes Großprojekt zu einem krönenden Abschluss gekommen.

Mystik und Kritik, Gesellschaft und Universum werden in seinen Texten zusammengelesen, und so greifbar die Antennen zum Outer Space auch sein mögen, die Bezüge zum realen Bedrohungsgefüge des amerikanischen Rassismus bleiben hinter dem SciFi- und Trance-Image deutlich spürbar. Für den Swingband-Leader Fletcher Henderson war Ra noch unter dem Namen Herman Poole Blount als Pianist und Arrangeur tätig, doch als sein Mentor 1953 stirbt und Blount erfahren musste, dass die Welt nicht auf noch ein Bebop-Trio gewartet hat, soll er zusammen mit seinem Produzenten in der Bibel und in Büchern über ägyptische Mythologie, schwarzen Spiritualismus und Science-Fiction geblättert haben. Er gründete sein Orchester, das er mit Kostümen von einer „Madame Butterfly“-Aufführung an der Chicagoer Oper ausstaffierte.

Anthropologische Spekulationen über das alte Ägypten als die Geburtsstätte der Zivilisation kamen seiner Absicht entgegen, eine Lösung für die unter Armut, Segregation und Rassismus leidende schwarze Bevölkerung der USA zu finden. Er ernannte sich zum Bürger des Saturn, gekommen, um das Space-Zeitalter zu verkünden. Offiziell wechselte er seinen Namen in Le Sony’s Ra nach dem ägyptischen Sonnengott Ra, sein Orchester nannte er später Arkestra, The Myth Science oder Solar Arkestra. Das, was Sun Ra „something else“ nannte, war weder Gott noch Satan, er nahm damit unmittelbar auf das alte Ägypten und den Begriff eines „Nameless One“ Bezug. Ihre Zivilisation dauerte 5.000 Jahre ohne Pause, keine andere Nation habe Ähnliches geschafft, das Alphabet, die Philosophie – viele Errungenschaften hatten hier ihren Ursprung, resümierte Sun Ra, und diese Kraft wollte er wieder gespürt haben, als er „Star Wars“ sah. „Ich bin eine Antenne, ein Kanal, ich spiele dunkle Geschichte, das geht tiefer als schwarz. Meine Musik handelt von den dunklen, unbekannten Dingen des Kosmos. Es ist größer als die Wahrheit. Es handelt von dem Potenzial, das Menschen haben“, resümierte Sun Ra 1989.

Im Juni 1971 hatte Geerken Sun Ra nach Kairo eingeladen, ein halbes Jahr später kam er mit seinem Arkestra dort an. Bei vielen Gelegenheiten, so auch in dem Film „Space Is The Place“, der damals während eines Konzerts des Arkestras vor den ägyptischen Pyramiden gedreht wurde, propagiert Sun Ra, dass das afroamerikanische Volk vom Planeten Saturn abstamme und einst die Pyramiden erbaut habe. Und dass die Schwarzen erst frei sein könnten, wenn sie zum Saturn, ihrer „natürlichen Heimat“, zurückkehren würden. Ein Theorem übrigens, das Anfang der Siebzigerjahre in Teilen der afroamerikanischen Community durchaus Diskussionsstoff bot.

Amiri Baraka erinnert im Vorwort zu seinem 1999 auf CD wiederveröffentlichtem Stück „a black mass“ (son boy records) an seine intensive Zusammenarbeit mit Sun Ra Mitte der Sechzigerjahre in The Black Arts Repertory Theater School, einer im New Yorker Stadtteil Harlem ansässigen schwarzen Künstlerinitiative im Umfeld der Nation of Islam – für „a black mass“ hatte Baraka Sun Ra and the Myth Science Arkestra gebeten, die Musik zu machen.

Wie bei der musikalischen Bewertung Sun Ras schieden sich die Geister immer auch über der Frage, ob seine Arche nun als Familie, Musikerkommune, Kloster oder Knast zu verstehen sei. Von der Hand in den Mund lebte sein letztes All-Black-Arkestra, das heute von dem 83-jährigen Saxofonisten Marshall Allen weitergeführt wird, in einem heruntergekommenen Haus in Philadelphia. Auf dem eigenen Saturn-Label veröffentlichte Ra über 250 Platten – mit handgemalten Covers versehen und nur per Mailorder zu beziehen. Zahlreiche Saturn-Highlights mit swingorientiertem Black-Cosmic-Jazz zwischen Elektronik, Bebop und Avantgarde, einst als „Brücke zu besserem Sein“ verstanden, sind inzwischen wiederveröffentlicht worden. Vom jüngst wiederbelebten Avantjazz-Label ESP ist neben alten Sun-Ra-Aufnahmen zudem eine Neuveröffentlichung angekündigt, auf der man Sun Ra, passend zu Geerkens Buch, auch als Rezitator seiner Gedichte hören kann: „The Master Speaks“ (www.espdisk.com).

CHRISTIAN BROECKING