jazzkolumne: Armstrong, Bach, Klezmer: Lauter Identitätseklats
Tonarten in J
Er schob das Forellensandwich in sich hinein und dachte an New Orleans. Der Jazz, wie er ihn kannte, passte eigentlich gut ins Bordell. Und zum Süden. Herausgeputzt wie ein Dorftrottel, war er in Chicago angekommen, die Eckensteher lachten ihm hinterher. Bei seiner ersten Plattenaufnahme blies er so laut, dass er im Flur stehen musste. Wenn es eine postkoloniale Musik gäbe, wäre Louis Armstrong ihr Antiheld, er ist authentisch und konstruiert zugleich. Das zeigt Ken Burns in seiner Filmserie „Jazz“ (Phoenix, jeweils samstags, 20.15 Uhr) gleich an mehreren Beispielen auf. Der Trompeter als Entertainer, Onkel Tom, Bote Gottes und kompromissloser Sprecher der Community. Dass alle Konstruktionen zum Teil sogar gleichzeitig wirksam wurden, gehört zu den Besonderheiten von Armstrongs Karriere. Im Dschungel der Referenzen hat sich vor allem die Sucht und Suche nach Authentizität behaupten können.
Das Ehepaar Masato bestellt sich Bihunsuppe mit Krabben. Sie sind unsicher, ob der Reis automatisch dazukommt. Die Masatos haben einen Sohn bekommen, Kobo, und machen jetzt eine große Reise. In ihrem Igluzelt schwitzen sie auf Okinawa, bis Kobo kollabiert, über vierzig Grad Durchschnittstemperatur war für den Kleinen doch etwas viel. Kobo erholt sich schnell im wohltemperierten Krankenhaus, und die Masatos ziehen in ein Love-Hotel. Da gibt es vierhundert Kanäle.
Für den japanischen Filmemacher und seine Frau sieht Okinawa wie eine modernisierte japanische Stadt aus. Herr und Frau Masato komponieren und singen, schreiben, sprechen und filmen. Beim 1. Internationalen Filmfestival Frankfurt, das heute zu Ende geht, hatte der neueste Hara-Masato-Film internationale Premiere: „Mi.Ta.Re. Bach in the Key of ‚J‘ in 1999“ (… Bach in der Tonart „J“). Masatos Filme werden nur selten außerhalb Japans gezeigt, weil sie durch ihre aufwändige Aufführung weitere Kosten und Mühen verursachen. Für „Mi.Ta.Re …“ sind die Masatos selbst nach Frankfurt gekommen, sie sprechen den Kommentar und singen den Soundtrack live zu dem Geschehen auf der Leinwand. Die fast dreistündige Dreifachprojektion mit Super-8 und Video wirkt wie eine Melange aus Roadmovie, Urlaubsvideo und experimentellem Heimatfilm mit Singer-Songwriter-Feeling, in dem sich alles um die eine wichtige Frage zu drehen scheint: Wie klingt Bach ohne die Töne d und h, ohne f und a?
Die Antwort ist einfach und bestechend: anders. Kobo hat zur Geburt ein Keyboard geschenkt bekommen, doch für die Ryukyu-Tonleiter, die in den Supermärkten auf Okinawa scheppert, braucht man keine Zwölf-Ton-Skala. Frau Masato singt „Emigranten fühlen sich wohl“, Herr Masato spielt Akkordeon und spricht von chaotisch eingewickelten Kulturen. Aber Masatos Akkordeon klingt nicht „wie Zigeuner“, und wenn er das dennoch behauptet, muss das doch nicht gelogen sein. Masato erforscht Klanglandschaften in einer obskur wirkenden Umgebung; amerikanische Häuser im Fünfzigerjahrestil zeugen davon, wer den Krieg gewann. Masato fragt, wie es im umgekehrten Fall heute in den USA aussehen würde. Doch nicht die Architektur der Supermärkte, sondern die Intensität der Musik gerät ihm zum Maß für Identität. Er zeigt junge Musiker, die in traditioneller Kleidung durch Okinawas Einkaufsstraßen ziehen, laute Musik machen, trommeln und tanzen. Es ist mal wieder einer dieser Gedenktage, den jede Kultur kennt. Sie mögen sich in vielem oder fast allem von den jungen Musikern in New Orleans unterscheiden, die dort die Tradition der Second-Liner-Blaskapellen hochhalten. Die ausdruckstarke und identitätsstiftende Wirkung ihrer Musik wirkt aber verblüffend ähnlich.
Louis Armstrong sei der Bach der amerikanischen Musik, sagt der Village-Voice-Kolumnist Gary Giddins. Auch der afroamerikanische Publizist Stanley Crouch schwärmt von der unbändigen Kraft und Energie, mit der Armstrong spielte, „die Trompete verlangt Opferbereitschaft“. In „Jazz“ erzählt der Trompeter Lester Bowie, dass Armstrong einst sein Idol war. Armstrongs Mutter war 16, als Louis geboren wurde, und die Gegend, in der er zur Welt kam, galt als so gefährlich, dass man sie auch das Schlachtfeld nannte. Armstrongs Mutter war Prostituierte, auch seine erste Frau war zeitweilig in diesem Gewerbe tätig. Eine jüdische Familie hatte Louis Armstrong zu seinem ersten Instrument verholfen, aus Dankbarkeit trug der Trompeter zeitlebens einen Davidstern an seiner Halskette.
Thomas Meinecke fragt in seinem Roman „Hellblau“, ob der afroamerikanische Klarinettist Don Byron, der mit Klezmerparodien begann, weißer spielt als der Jude John Zorn, der im September 1992 in München das erste Radical Jewish Music Festival leitete. Hiermit kommt ein anderes Problem der Identitätskonstruktion auf den Tisch, denn selbst wenn Byron gewollt hätte: Die Teilnahme am jüdischen Kulturleben bleibt ihm verschlossen. Diese Erfahrung machte er schon, als er in seiner Studienzeit am New England Conservatory in Boston Klezmer lernte.
Der jüdische Gitarrist Marc Ribot wirkte 1992 am Manifest für eine Radical Jewish Music mit, damals waren diese Musiker zutiefst davon irritiert, dass die Sounds der Independend-Musikszene auf einmal nicht mehr eindeutig von jenen der neofaschistischen zu unterscheiden waren. Mit dem Label Radical New Jewish Music wollten sie sich davon absondern, doch der Titel suggerierte, dass hier eine nationalistische Bewegung unterwegs sei. Für den New Yorker Ribot wurde das schnell unerträglich, als Musiker aus dem Kreis auf einmal anfingen, sich wie alte orthodoxe Juden zu benehmen. „Ich habe nie eine Beziehung zu Klezmermusik gehabt, ich kam eigentlich erst in Zorns Masada-Projekt damit in Berührung. Und ich finde, dass jüdische Musiker aus dem East Village sich nicht durch Klezmer repräsentieren sollten. Das ist konstruierte Authentizität in einer fast lächerlichen Pose.“ Beim letzten Frankfurter Jazzfestival, das sechs Wochen nach dem 11. September stattfand, kam es zum Identitätseklat. Der jüdische Gitarrist Elliott Sharp distanzierte sich auf offener Bühne vom Image seiner beiden Mitmusiker, Rea Mochiach und David Krakauer. Er fühle sich keiner Religion oder Kultur zugehörig, die sich selbst als radikal tituliert. Dafür bekam er Applaus. Dafür, dass die gemeinsame Tonart futsch war, hörte sich die Musik aber doch sehr harmonisch an, merkwürdig.
CHRISTIAN BROECKING
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen