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Archiv-Artikel

istanbul, europäische außenstelle Nur die beste Zeit zum Beten

Während westliche Moden im Zentrum immer verwirrender werden, regiert am Rand der Stadt die harte Schule des Islam

Es klingt zwar nach Klischee, aber Istanbul ist tatsächlich eine Stadt, in der lebensstiltechnisch so einiges geht – egal ob Hamburg das Vorbild ist oder Riad. Vorgestern ging ich durchs nächtliche Beyoglu nach Hause. Mit einer Gruppe von Künstlern, die sich über die Vor- und Nachteile von Wäschetrocknern und ihre meist schlecht funktionierenden Toiletten unterhalten hatten, war ich in der plüschigen Lobby des Büyük Londra Oteli gewesen, hatte Bier getrunken und Nüsschen gegessen. Das Hotel kennt man aus Fatih Akins Filmen. Ob seitdem oder schon davor: Als seltenen Zusammenfall filmischer und realer Realität haben es die internationalen Kreativen in der Stadt zu ihrem Anlaufpunkt erkoren. Auch der Kakadu, der in „Crossing the Bridge“ mit der Sängerin Müzeyyen Senar um die Wette krächzt, lebt wirklich. Von dort ging ich also nach Hause, zwischen Galatasaray-Lizeum und Goethe-Institut hindurch, und war an der dunklen Stelle, wo plötzlich die Menschen aufhören und ich immer noch furchtsam das Handy mit der einen und den spitzen Schlüssel mit der anderen Hand umklammere. Da grölte jemand aus einer unsichtbaren Karaokebar heraus: „Wir sind schwu-hu-le Mädchen!“

Zu Hause saß meine neue Mitbewohnerin, die nur Türkisch spricht, auf dem Sofa und hörte Wir sind Helden, während sie aus ihrer Tasse mit Weihnachtsmotiven ihren Tee trank. Woher sie die Helden hatte, konnte unser Hand-Fuß-Dialog nicht klären. Dass sich aber auch Türkei-Türken gegenseitig Christmaskram schenken und kleine grüne Plastetannen in ihren Wohnungen platzieren im Dezember, so viel meine ich verstanden zu haben. Am nächsten Morgen war mir aber dann nach Reiseführer: Ich suchte mir das linke Ufer des Goldenen Horns aus – Fener, Balat, Fatih. Letzteres gern mal unter dem Titel „Islamische Republik von Istanbul“ firmierend.

Ein Stück mit dem Bus. Gar nicht weit. Ich steige aus und gehe vom Wasser aus eine Gasse hinauf. Läden bieten Holzscheite feil. Um 90 Grad vornüber geknickte Lastenträger mit ausgetretenen Lederschuhen tun langsam einen Schritt vor den anderen. Kleine Jungs springen mich an und fordern „What's your name!“ und „Money!“. Kleine Mädchen laufen hübsch in Karo-Rock-Schuluniform vor mir her. Dann übertrete ich eine unsichtbare Grenze. Plötzlich bin ich weit und breit die einzige weibliche Person, die ihre Haare in die Sonne hält. Augenpaare mustern mich, als Dreieck ausgeschnitten aus lang fließendem Ganzkörperschwarz. Junge Frauen mit glänzenden Kopftüchern und bodenlangen Jeansmänteln drehen sich nach mir um und tuscheln hinter vorgehaltener Hand. In den Geschäften hängen Gebetsketten und gehäkelte Männerkäppchen. Ich gerate auf den Wochenmarkt und bilde mir ein, dass Verhüllte mir im Gedränge ganz absichtlich ihre Einkaufswagen in die Fersen rammen.

Im weiten Hof der Fatih-Moschee stehen derweil bereits einige tausend Menschen. Mitten am Tag warten Männer hier, Frauen da auf den Beginn des Gebets. Ich wechsle absichtlich die Seite, stelle mich zwischen die Männer, finde mich blöd und frage mich nebenbei, wie ein religiöser Muslim seinem Arbeitgeber verklickert, dass er um halb drei nachmittags mal für eine Dreiviertelstunde zum Beten weg muss.

Abends lese ich in der ganz neuen Feldstudie des Politologen Hakan Yilmaz, dass 24 Prozent aller Türken sich gestört fühlen, wenn Frauen ihren Kopf nicht bedecken, 28 Prozent finden diejenigen störend, die ihre täglichen Gebete nicht verrichten. Da wird sich für die Bewohner von Fatih sicher ein passender Arbeitgeber finden lassen. Mit einer leicht größeren Chance sogar, als sie laut Studie ein Schwuler hat, einen nicht schwulenfeindlichen Arbeitgeber zu finden. Und den Künstlern in Beyoglu sollte auch mal jemand erzählen, dass sie mit ihren Disco-Ausgehplänen fürs Wochenende 63 Prozent aller Türken vor den Kopf stoßen. Ich tu's nicht – so wenige Tage nach dem Kommissionsbericht habe ich keine Lust, auch noch Spielverderber zu sein.

KIRSTEN RIESSELMANN