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intershopWLADIMIR KAMINER über internationale Sittenverschmelzung

Die Zuwanderung am Arnim- Platz

In der Nähe von unserem Haus am Arnim-Platz steht ein Denkmal: Auf einem Sockel aus Bronze liegt ein aufgeschlagenes Buch und neben dem Buch zwei abgehackte Hände – oder ein Paar Handschuhe. Jeden Tag gehe ich mit meinen Kinder an diesem Denkmal vorbei – auf dem Weg zum Kindergarten. Jeder von uns dreien beschäftigt sich dabei so gut er kann mit der Frage, was diese Skulptur eigentlich zu bedeuten hat – und jeder hat inzwischen eine ganz eigene Theorie oder zumindest eine ganz persönliche Haltung zu dem Kunstwerk entwickelt.

Ich habe es „Der verurteilte Schriftsteller“ genannt. Aufgestellt, um jemanden zu ehren, der Bücher schrieb, in denen er stets die Wahrheit sagte. Dafür wurden ihm von seinen dankbaren Lesern die Hände abgehackt. Meine Tochter Nicole meint dagegen, es wären bloß Handschuhe, die jemand auf dem Sockel mitsamt dem Buch unterwegs zur Kita vergessen hat – sozusagen als ein Denkmal gegen die Vergesslichkeit. Mein Sohn Sebastian ist noch zu klein, um eine Theorie zu dem Objekt zu haben, aber er hat dazu doch eine sehr klare Haltung. Jedesmal wenn wir daran vorbeigehen, gibt er den beiden Händen bzw. den zwei Handschuhen aus Bronze die Hand und sagt „Guten Tag“.

Ich weiß natürlich, dass dieses Denkmal, wie übrigens auch alle anderen Abstraktionen der Hauptstadt, in Wirklichkeit entweder mit der Wiedervereinigung oder mit der Judenvertreibung zu tun hat. Aber nicht bei jedem abstrakten Kunstwerk kann man die Botschaft so genau erkennen, wie bei den zersägten Riesenwürmern aus Chromnickel-Stahl vorm Europa-Center, die ganz klar versuchen, wieder eins zu werden und auf diese Weise das zerteilte Deutschland symbolisieren sollen. Ähnliches gilt für den umgefallenen Riesenstuhl am Koppenplatz in Mitte, der an die Judenvertreibung erinnern soll und den der Künstler „Der verlassene Raum“ genannt hat.

Die wahre Botschaft der zwei Hände auf dem Sockel wollen wir aber im Grunde gar nicht wissen. Diese Kunstwerke sind ästhetisch eigentlich überholt. Das neue wiedervereinigte Deutschland hat andererseits bis jetzt bei der bildenden Kunst nur wenig Anklang gefunden. Neben dem Denkmal am Arnim-Platz versammeln sich alle Alkoholiker und Penner unseres Bezirks – Dutzende von Männern und Frauen bilden so zusammen ein lebendiges Denkmal der neuen Zeit. Alle aktuellen Stichworte unserer Gesellschaft sind hier repräsentiert: die Arbeitslosigkeit, die Rentenreform und sogar die Zuwanderungsquote. Schon morgens um acht fangen sie an, im Sitzen auf den Bänken die ersten Getränke zu mixen. Um 15 Uhr verschwinden sie aus dem Park, wahrscheinlich für ein Mittagsschläfchen irgendwo. Der harte Kern unter ihnen taucht dann gegen Abend wieder auf und trinkt weiter. Die Bänke werden auch in Abwesenheit der Penner niemals von Fremden besetzt, dafür sorgt ein besonders penetranter Gestank aus den Büschen ringsum, der sie alle verscheucht.

Trotzdem gibt es auch hier eine Zuwanderung. Seit einiger Zeit habe ich Grund zu der Annahme, das sich unter diesen einheimischen Pennern ein Landsmann von mir verbirgt, der unermüdlich hier im Park bisher unbekannte russische Trinksitten verbreitet. So hängt zum Beispiel seit neuestem ein Glas am Baum neben der Bank. Die Einheimischen haben früher nie ein Glas benutzt – sie mixten ihren Doppelkorn mit Bier immer pur – im Bauch. Jetzt haben sie die Möglichkeit, die richtige Mischung vorab zu dosieren. Außerdem knabbern sie jetzt immer an einem Trockenfisch aus dem „Extra“-Supermarkt schräg gegenüber. Dort hat man vor kurzem ein Regal mit russischen Lebensmitteln eingerichtet: Trockenfisch, Konfekt der Marke „Klumpfüßige Bärchen“, das Trockenbrot „Gute Nacht“ und eingelegte Butterpilze, die ausdrücklich „Zum Wodka“ heißen.

Die Zuwanderung tut dem Park anscheinend gut. Durch die internationale Sittenverschmelzung gewinnt der Alkoholiker-Verband am Arnim-Platz neue Lebensqualitäten, es eröffnen sich ihm neue Horizonte. Es riecht sogar besser.

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