in fußballland: CHRISTOPH BIERMANN über englischen Torjubel
Stift im Arsch
Christoph Biermann, 39, liebt Fußball und schreibt darüber
Auf der Autobahn zwischen Rotterdam und Arnheim erzählte mir Harry vom FC Middlesborough. Das war bemerkenswert, weil wir das hübsche EM-Spiel zwischen Holland und Dänemark gesehen hatten und noch im Trainingslager der Niederländer vorbeischauen wollten. Doch was ist schon die große und glamouröse Welt des Fußballs gegen die hässlichen Entlein des Spiels. Die Zuneigung zu denen ist uns tief ins Herz eingeschrieben.
Harry stammt aus der Nähe von Middlesborough und folgt dem Klub seit Jahrzehnten mit treuer Anhänglichkeit und zunehmender Gelassenheit. Er ist einer der witzigsten Menschen, die ich kenne, weshalb er zurecht als humoristischer Reiseautor und Fußballschreiber arbeitet. Aber unser Gespräch nahm bald eine Wendung zum Ernsthaften, als wir begannen, die Vor- und Nachteile der neuen Fußballwelt zu vergleichen.
Im Rahmen unserer kleinen Betrachtung des kulturellen Wandels in den Stadien erzählte Harry vom veränderten Klang des Torjubels in Middlesborough, seit der Klub in ein schickes, neues Stadion umgezogen ist, in dem es, wie überall in England, nur noch Sitzplätze gibt. Früher, so meinte er, hätte der Torjubel immer einen aggressiv grollenden Unterton gehabt. So wie er es beschrieb, schienen die Fans im Ayresome Park über dem Gegner in diesem Moment ihre ganzen Frustrationen einer wieder mal trüben Woche im Norden Englands ausgekippt zu haben. Auf der Insel, daran konnte auch ich mich noch gut erinnern, hat Torjubel oft so geklungen, als ob die Zuschauer sich gerade übergeben hätten. Das wäre inzwischen anders geworden, meinte Harry, wenn auch noch weit entfernt von dem, was wir am Abend zuvor in Rotterdam erlebt hatten. Da hatten uns fröhliche Dänen in Schunkelstimmung und Holländer mit lustigen Hüten die Köpfe schütteln lassen. Die meisten von ihnen Fans auf Sponsor-Tour, Incentive-Reisende ins Event-Land. Lustiger Karneval statt entschlossener Hingabe.
Solche Klagen führen immer ins Leere. Denn die frustrierten Fans des FC Middlesborough von einst, ihre Gewalttätigkeit, ihre Dumpfheit, nicht selten Rassismus, latente oder offene Frauenfeindlichkeit wollten wir auch nicht als taugliche Alternative hochleben lassen. Trotzdem gibt es einen untergründigen Groll auf jene Zuschauer, die nur ins Stadion kommen, um dort eine gute Zeit zu verbringen. Austauschbar, als hätten sie auch ein Musical-Wochenende buchen können.
Die meinen es doch nicht ernst! Aber warum tun wir es? Eigentlich hätten wir an dieser Stelle über „Fever Pitch“ reden sollen. Nick Hornbys so begeistert gelesenes Buch über Fußball ist das nämlich nur vordergründig, sondern in Wirklichkeit eines über Väter und Söhne. Und viele von uns vermeintlichen Nostalgikern hängen den verschlungenen Vater-Sohn-Geschichten der Vergangenheit nach, die wir auch in der 25. Spielzeit noch mit ins Stadion bringen, um bedauernd festzustellen, dass die Männerwelt drumherum schon längst zerbröselt ist.
Darüber sprachen wir nicht, als wir über holländische Autobahnen rollten, vielleicht, weil uns das so klar war, dass wir es gar nicht mehr erwähnen mussten. Vielleicht, weil uns so klar war, dass wir es wieder vergessen hatten. Als wir schließlich auf das Stadion in Arnheim zufuhren, erzählte Harry die Geschichte von dem alten Mann, der in Middlesborough über Jahre und Jahrzehnte die umstehenden Fans mit immer demselben Zwischenruf nervte. „Hey Schiri, hast du deinen Stift im Arsch stecken“, rief er bei jedem Foul an einem Spieler der heimischen Mannschaft. Immer nur diesen einen Satz. Sein samstägliches Ziel war es, Verwarnungen oder gar Platzverweise für die Gegner zu fordern. Das machte er in jedem Spiel zigfach, an jedem Wochenende, in jeder Saison, viele Jahre lang. Und wir kamen zu dem Schluss, was er für ein gottverdammter Idiot gewesen sein muss und dass wir solche Leute heutzutage manchmal vermissen.
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