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Archiv-Artikel

in der taz vor 14 jahren: alle ex-ostblockländer wollen in die nato

Wer miterleben möchte, dass Triumph auch einen beängstigenden Beigeschmack haben kann, muß dieser Tage nach Brüssel schauen. Bei der Versammlung der Sieger im Ringen um die Weltherrschaft, den Teilnehmern der Außenministerkonferenz der Nato, geht derzeit die Angst um. Für das atlantische Bündnis ist ein Szenario eingetreten, mit dem niemand in der Runde der kalten Krieger je rechnete: statt den Osten zu bekämpfen, sollen sie für die Gegner von einst nun Verantwortung übernehmen. Diese sind zur friedlichen Belagerung des Nato-Hauptquartiers übergegangen. Alle, alle wollen rein. Den Anfang machte der gute Mann aus Prag. Dann kamen Ungarn und Polen. Bulgaren und Rumänen wären auch nicht abgeneigt, die baltischen Staaten wollen sowieso alles, was irgendwie mit dem Westen zu tun hat – und nun auch noch Jelzin.

Kooperation allein schafft im Osten kein ausreichendes Gefühl von Sicherheit. Das ist auch das Problem im Rahmen der KSZE. Sie ist als Zusammenschluß nach wie vor zu unverbindlich, als das sie, siehe Jugoslawien, dazu in der Lage wäre, militärische Auseinandersetzungen in Europa zu unterbinden.

US-Außenminister Baker schlug in Brüssel vor, die Nato solle sich doch als Institution innerhalb der KSZE engagieren und dieser ihre Infrastruktur für friedenssichernde Maßnahmen zur Verfügung stellen. Ein bemerkenswerter Schwenk der US-Außenpolitik, die bisher in der KSZE vor allem eine unliebsame Konkurrenz zur Nato gesehen hat.

Doch er kommt zu spät. Jetzt wollen die Staaten Osteuropas offensichtlich mehr. Sie wollen unter den Schutz der Nato. Damit steht die Nato an der Schwelle zu der sinnvollsten Aufgabe, die sie je hatte: Sie könnte von einer höchst fragwürdigen Militärmaschine zur größten Abrüstungsagentur werden, die es je gab. Voraussetzung ist, daß die kalten Krieger von einst die Zeichen der Zeit erkennen.

Jürgen Gottschlich, 21. 12. 1991