ich bin ein entwicklungsroman :
von IRA STRÜBEL als KATHRIN PASSIG
Als Einzelkind hat man’s nicht leicht. Es ist recht freudlos, immer allein mit ein und derselben Person – sich selbst – zu sein. Schnell gehen einem die unerzählten Anekdoten aus. Deshalb wär ich gern hin und wieder jemand anders gewesen.
„Mama, kann ich heut mal jemand anders sein?“, frug ich meine Mutter im zarten Alter von viereinhalb Jahren.
„Nein“, sagte die Mutter nur, denn ihre schwäbische Herkunft erlaubte ihr nicht viele Worte.
„Och menno“, maulte ich und ließ ihr gegenüber das Thema ruhen. Beharrlich antwortete ich jedoch weiter auf die Frage „Was willst du denn werden, wenn du groß bist?“ mit einem trotzigen „viele“. Mehrfach wurde ich dabei ertappt, wie ich seinerzeit sehnsüchtig auf die „Ich bin zwei Öltanks“-Werbung starrte. Nach dem neidischen Konsum von Internatsgeschichten mit Zwillingsverwechslungen und dem eifersüchtigen Studium diverser RAF-Fahndungsplakate am Eingang des Postamts (die hatten’s gut, die hatten eine Bande; und dazu eine Menge Alias-Namen) machte ich schließlich Abitur und verließ die Heimat. Wenn ich schon nicht jemand anders sein durfte, dann wollte ich wenigstens woanders hin, insistierte ich. Also begann ich ein Studium in der Fremde und stieß dabei auf wunderbar tröstliche Dinge wie Deleuze, Foucault und das Internet. Das nutzte ich schamlos aus.
„Im Netz weiß keiner, dass du ein Hund bist“ sagte ich im Studenten-Café wissend. „Wieso denn ein Hund?“, fragte meine Freundin bestürzt. Ich schaute französisch und zitierte meine Helden: „Wer spricht? Wer handelt? Es gibt immer eine Vielfalt – selbst in einer sprechenden oder handelnden Person. Wir alle sind ‚Gruppen‘!“, rief ich aus, fast empört, das erklären zu müssen. „Das Internet“, dozierte ich, „untergräbt den Zwang zum einzigen und ewigen Ich!“ „Noch’n Kaffee?“ wechselte die Freundin unangenehm berührt das leidige Thema.
So frönte ich meiner Leidenschaft fürs Viele-Sein fortan heimlich im Netz, denn dort konnte ich alles sein: eine notgeile Hausfrau mit Lockenwicklern, ein öder Versicherungsvertreter, ein rosaroter Hase, der schweigend in der virtuellen Ecke steht und nur mittels eines elaborierten genitalen Morsecodes kommuniziert. Allein deshalb ist das Internet eine prima Sache, doch löste es natürlich noch nicht mein Problem in der realen Welt.
Ich arbeitete beharrlich daran, meine Netzerfahrungen auch in der Kohlenstoffwelt umzusetzen: Real Life Identity Sharing, das war’s! Wenn man Autos teilen konnte, müsste das doch auch mit dem Selbst möglich sein. Hanni und Nanni hatten es mir ja vorgelebt. Nun musste ich nur noch jemandem vom Shareholder Value meiner Person überzeugen. Und tatsächlich: Im Netz fand ich willige Mitstreiter für die gute Sache. So erfüllte sich mein Kindheitstraum, und es wurde doch noch alles gut.
Eben zum Beispiel rief mich Frau Passig an. Sie müsse ihre monatliche Kolumne für Die Wahrheit schreiben, habe jedoch keine Zeit, und deswegen sollte ich einen Artikel an ihrer Stelle liefern, und darunter möge stehen: Ira Strübel als Kathrin Passig. Na bitte, es geht doch.
Jedenfalls am „Tag des deutschen Blindtextes“. Da geht ja alles, und die Autorinnen tanzen den Redakteuren gern mal auf der Nase herum (d. Red.).
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