heute in Bremen: „Eine Wissenschaft für sich“
Verstehen In Vegesack wird das neue und komplizierte Pflegegesetz aufgedröselt
60, ist Sozialpädagogin mit Zusatzausbildung für familientherapeutische, systemische sowie Pflegeberatung und arbeitet im Pflegestützpunkt Bremen-Nord.
taz: Frau Rothermel, was muss ich über das neue Pflegegesetz wissen?
Rita Rothermel: Wie das Antragsverfahren geht. Man sollte den neuen Begriff der Pflegebedürftigkeit kennen und über die Leistungen informiert sein. Das ist eine Wissenschaft für sich und sehr schwer durchschaubar. Deswegen brauche ich eine individuelle Beratung, damit ich die Leistungen benutzen kann. Und auf die hat man jetzt einen gesetzlichen Anspruch. Jede Pflegekasse ist dazu verpflichtet, Beratungsstellen zu nennen und zu bezahlen.
Inwiefern ist der Begriff der Pflegebedürftigkeit neu?
Früher waren wir gar nicht als soziale Wesen definiert. Es ging nur um Nahrungsaufnahme, Waschen und Körperfunktionen. Der neue Begriff erfasst mehr Lebensbereiche: Im Fokus steht jetzt die Selbstständigkeit und inwiefern es möglich ist, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Das betrifft die Gestaltung des Alltagslebens, Mobilität, Selbstversorgung, Bewältigung von und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Belastungen sowie kognitive und kommunikative Fähigkeiten. Außerdem werden bei der Begutachtung Verhaltensweisen und psychische Problemlagen angeschaut. Der neue Begriff umfasst auch psychische und körperliche Beeinträchtigungen.
Was soll der neue Pflegebegriff gewährleisten?
Mehr Menschen sollen trotz Beeinträchtigungen länger zu Hause leben können, ihre Selbstständigkeit soll möglichst lange erhalten bleiben. Es ist jetzt zum Beispiel schon beim leichtesten Pflegegrad möglich, bauliche Veränderungen in der Wohnung vorzunehmen.
Was heißt das konkret?
Bei Pflegegrad eins stehen ihnen bei Bedarf bis zu 4.000 Euro zur Verfügung: etwa für rollstuhlgerechte Türverbreiterungen oder eine ebenerdige Dusche.
Wie bewerten Sie die Pflegereform?
Die neuen Regelungen sind erst mal gut. Was jetzt noch fehlt, sind Verbesserungen auf der anderen Seite: beim Personal. Pflegekräfte werden nicht angemessen bezahlt. Mobile Pflegekräfte stehen unter totalem Stress und rennen unter hohem Zeitdruck und mit schlechter Bezahlung von Termin zu Termin. Es ist verständlich, dass niemand unter diesen Bedingungen arbeiten will. Auch der Pflegenotstand in Altenheimen ist eine Katastrophe. Gute Pflege ist harte Arbeit, die Zeit für Zuwendung und Geduld mit den Pflegebedürftigen erfordert, und die absolut unterbezahlt ist. Diese Seite wurde beim neuen Gesetz komplett ausgeblendet.
Interview gjo
16 Uhr, Vortrag im Pflegestützpunkt Bremen-Nord, Zum Alten Speicher 1–2, 2. OG im Einkaufszentrum Haven Höövt, um Anmeldung wird gebeten unter ☎0421-696 24 10
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