herr tietz macht einen weiten einwurf : FRITZ TIETZ über das sportliche Pisa
Deutschland geht rückwärts
Deutschlands Schüler sind zu doof, wie man seit diesen ominösen Pisa-Tests weiß. Und als ob das nicht schon doof genug wäre, sind sie jetzt auch noch zu dick. Das geht aus den letzten Einschulungsuntersuchungen hervor. Jeder zehnte Sechsjährige ist übergewichtig, jeder zwanzigste sogar fettleibig. Haltungs- und Gelenkschäden sind unter den Nachwüchsigen arg verbreitet. Diabetes grassiert in den Grundschulklassen. Bei fast jedem dritten Schulkind ist die körperliche Motorik, sieht man mal vom Kau-, Schluck- und Verdauungsapparat ab, allenfalls gröbst entwickelt. Deutsche Sportlehrer wollen ermittelt haben: Je vollendeter ihre Schützlinge die Bedienung von Computer, Ballerkonsole oder Chipstüte beherrschen, umso weniger sind sie zu einfachen Bewegungsabläufen imstande. Vor allem rückwärts laufen oder auf einem Bein hüpfen können sie nicht. Ja, sie können sich nicht mal denken, wozu das überhaupt gut sein soll.
Dabei sollte jedes Kind eigentlich wissen, dass Gehen manchmal zwingend nur rückwärts möglich ist. Im Traumberuf Möbelpacker etwa, den ich, wenn auch nur für wenige Monate, in Diensten der Bielefelder Firma Broscheit ausüben durfte, muss man häufig weite Strecken und oft genug auch steile Treppen rückwärts überwinden. Anders kann man nämlich beim Schränkeschleppen zu zweit als Vordermann die Traglast kaum in der Balance halten. Und doch: Immer wieder wollen auch die Vorderleute vorwärts gehen und es sich dadurch unnütz schwer machen. Was musste ich mir daher bei den vielen Amateurumzügen, zu denen ich seither als Experte gerufen wurde, schon den Mund fusselig reden. Deshalb hier noch mal zum Mitschreiben: Wer vorne trägt, geht immer rückwärts. Jetzt bin ich sehr gespannt, wann mir der erste, mutmaßlich übergewichtige Umzugshelfer erklärt, er würde ja gern rückwärts schleppen, könne es aber partout nicht. Armes Deutschland.
Ein Volk aber, das nicht mehr rückwärts laufen kann, wird große Probleme auch beim Rückwärtseinparken bekommen und somit im sich künftig noch verschärfenden Wettbewerb um die immer knappere Ressource Parkraum zusehends ins Hintertreffen geraten. Man kommt nun mal in viele Lücken nur rückwärts rein. Und wo endet erst eine Nation, deren Angehörigen man lediglich einen Fuß wegschießen, -sprengen oder -kartätschen muss, und schon kippen sie einfach um? Genau so wird es kommen, wenn sich die dicke deutsche Jugend nicht endlich wieder fleißig im Ein-Bein-Hüpfen übt. Gerade in diesen Zeiten, in denen der Verteidigungsbereich der Bundeswehr bis zum Hindukusch ausgeweitet wird, muss ich öfter mal an Herrn Quassowski denken. Er wohnte früher im Reihenhaus nebenan und hatte beim Versuch der Reichswehr, deren Verteidigungsbereich bis zum Ural auszuweiten, ein Bein in Russland verloren. Wie behände aber konnte dieser ehemalige Soldat hinterher auf seinem verbliebenen Bein herumhüpfen. Wenn er abends seine quietschende Prothese abgelegt hatte, konnte ich ihn mitunter stundenlang durch die Wand hindurch einfüßig in seiner Wohnung herumhopsen hören. Sogar die Treppen bewältigte er, als fehlte ihm nichts. In absehbarer Zeit nun werden aus dicken deutschen Kindern dicke deutsche Soldaten und Soldatinnen geworden sein und also möglicherweise am Hindukusch ein Bein riskieren müssen. Da sollten sie dann das Ein-Bein-Hüpfen schon können.
Ich weiß nicht mehr, wo ich als Kind das Rückwärtslaufen und Ein-Bein-Hüpfen lernte. Ganz bestimmt aber nicht im schulischen Turnunterricht, wie das die Lehrpläne heute offenbar vorsehen. In dem Sportunterricht, der mir erteilt wurde, wurde ich in weitaus komplizierteren Bewegungsabläufen unterwiesen als bloß Rückwärtslaufen oder Hüpfen: Rolle vorwärts zum Beispiel, Klappmesser oder Hampelmann. Bis heute ist mir allerdings schleierhaft geblieben, wozu man das eigentlich können muss.
Mehr von Herrn Tietz gibt es heute Abend um 19.30 Uhr live im DGB-Haus in Bremen. „Und täglich drückt der Fußballschuh“ lautet der Titel der sportlichen Lesung, die Herr Tietz zusammen mit Gerd Dembowski vom Bündnis Aktiver Fußballfans (Baff) im Rahmen der Ausstellung „Tatort Stadion“ gibt.
Fotohinweis: Fritz Tietz ist 44 Jahre alt, lebt als Nachfahre ostpreußischer Einwanderer in der Nordheide und treibt gelegentlich Sport