herr tietz macht einen weiten einwurf : Die entheimnisste U-Kabine
Über Regierungschefs, Sönke Wortmann und ähnliches Pack, das meint, ohne jedes Mandat in Kabinen eindringen zu dürfen
Zwischen ihrem 19. und 49. Lebensjahr halten sich Männer im Durchschnitt 72 Minuten in Umkleidekabinen auf. Frauen kommen sogar auf 109 – Stunden wohlgemerkt. Ein immenser Unterschied, der übrigens noch gravierender ausfallen würde, wenn die Männer von ihrer Gesamtkabinenzeit nicht auch noch 49 Minuten „aus Versehen“ bzw. „unfreiwillig“ in den Kabinen verbrächten, so die erstaunliche Erhebung. Keine Ahnung, wie es jemand schafft, 49 Minuten seines Lebens unabsichtlich in einer Umkleidekabine zu verbringen, und man will das eigentlich auch gar nicht wissen. Schon weil sich’s bei dieser Sorte U-Kabine um eine eher gewöhnliche handelt. Da darf jeder rein. Man darf sogar drei Teile mitnehmen.
Nicht so in die Sportlerumkleide. „Für Unbefugte kein Zutritt“, so prangt es an deren Türen. Voller Ehrfurcht prallt zurück, wer nichts in den Räumen dahinter zu suchen hat. Und sofern er ein wahrer Sportsfreund ist, darin auch gar nichts zu suchen haben will, denn ihm gilt der Kabinentrakt als exklusives Refugium seiner Idole. Allenfalls das den Sportler betreuende Personal darf, ohne anzuklopfen, rein. So weit die seit der Erfindung der Sportlerkabine geltenden Sportlerkabinenregeln. Wie alle Regeln werden natürlich auch diese bisweilen missachtet. Vorneweg von Regierungschefs und ähnlichem Pack, das meint, ohne jedes Mandat in die Kabinen eindringen zu dürfen. Doch stets bleibt an solchen Verstößen der Ruch des Peinsamen kleben. Man weiß einfach, dass sich das nicht gehört. Auch wenn, etwa im DFB-Pokal, das Fernsehen in den Kabinen der so genannten Kleinen die Traineransprachen und Pausentees dreht. Oder wenn nach bedeutenden Siegen wiederum das Fernsehen in das Allerheiligste vorrückt, um uns mit zum Teil intimsten Aufnahmen der dort feiernden Sportler zu behelligen. Den bislang schamlosesten Frevler nicht zu vergessen, was die Verletzung des Kabinenmysteriums angeht: den feinen Herrn Wortmann. Nicht genug damit, dass er sich vier WM-Wochen lang auf den Kabinenbänken der Nationalelf herumfläzte. Nein, er musste seine dabei gefilmten „Eindrücke“ auch noch in die Kinos bringen. Einen Teufel werde ich tun und mir durch seinen Film die Geheimnisse des Kabineninnenlebens entheimnissen zu lassen.
Und jetzt auch noch das: „Diese unantastbare Heiligkeit der Kabinen muss ein Ende finden.“ Der das Unaussprechliche auszusprechen wagte, heißt Renzo Uliveiri und ist Trainer des italienischen Fußball-Zweitligisten FC Bologna. Der hat auf Betreiben seines Präsidenten Alfredo Cazzola den schändlichen Plan gefasst, eine lokale TV-Station eine tägliche Sendung aus der Kabine seiner Mannschaft ausstrahlen zu lassen. Mit solchem „Umkleidekabinen-TV“, wie sie das in Bolgna nennen, wolle man die Fans enger an den Verein binden, so scheinheiligen die Tempelschänder herum und schaffen damit doch nur eins: die Entzauberung der Stars. Mit diesem bislang rigorosesten Vorstoß wider die Sakrosanz der Kabinen droht der Damm endgültig zu brechen. Ja, warum denn nicht? So wird jetzt manch Simpel einwerfen, irgendwas von den pekuniären Vorzügen faseln, die allen Beteiligten daraus erwüchsen, und möglicherweise schon bald auch dafür plädieren, nach den Kabinen noch ganz andere Schutzräume der Sportler in die Öffentlichkeit zu zerren. Im Werbefernsehen muss man das längst ertragen. Da sieht man zum Beispiel deutsche Fußballhelden als nougatcremende Frühstückchen herumsitzen. Entsetzlich, wie sofort jeglicher Glanz von ihnen weicht und sie wie hausbackene Schlichte wirken. Die sie vermutlich sogar sind. Aber wer will das schon so genau wissen?