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Archiv-Artikel

hannemann, liebling der massen Die Möhrenfrage

Im Leben kommt man häufig an einen Punkt, an dem man sich entscheiden muss. Dann heißt es zum Beispiel: „Soll ich die jetzt heiraten?“, oder „bringe ich den jetzt um?“, oder „nehme ich die Biomöhren oder die normalen?“

Bereits seit einer halben Stunde stehe ich bei Reichelt am Gemüsestand. Prüfend nehme ich mal die eine Tüte in die Hand und mal die andere, lasse mal die andere verächtlich zurück in die Kiste plumpsen, mal die eine bedächtig und mit bedauernder Miene zurück gleiten.

Was heißt hier überhaupt: „die normalen“? Verdächtig billig sind sie, verdächtig groß und gerade – Klischeemöhrchen aus einem Bilderbuch für Kinder. Chemiebuch für Umweltkriminelle wäre passender für diese genmanipulierten und mit Plutonium beschossenen Massenmöhren, hochgezüchtet und aus der Luft gespritzt mit DDT, o weh!, o weh! Junge Hasen hat man ins verseuchte Feld geschickt, ahnungslos und ohne Schutzbekleidung, die Möhrchen zu suchen und auszubuddeln. Früher nahm man polnische Saisonarbeiter, doch die sind dem bösen Möhrenzar zu teuer. Hasen, so jung, dass sie kaum laufen können, notorisch unterernährt und häufig auch behindert, weil bereits die Eltern unterernährt waren und verstrahlt, apportieren arglos das getunte Gift. Vom so genannten Hasenheger – welch abscheulicher Euphemismus! – werden den Hasen die Möhren brutal aus den hungrigen Mäulchen gerissen. Sofort rennen sie wieder los, neue suchen. Sie sind bloß willfährige Werkzeuge der Verbrecher – sie haben halt Hunger und nichts anderes gelernt.

Von alledem steht selbstverständlich nichts auf der Verpackung, doch für jeden auch nur halbwegs klar denkenden Menschen liegt die Wahrheit auf der Hand.

Ganz anders dagegen die Biomöhren. Klein und schrumplig sehen sie aus, doch sie sind glücklich und gesund. Sie sind in dem Garten einer sympathischen Landkommune gewachsen, mit reinem Quellwasser gegossen und mit bester Vegi-Kacke direkt aus der Kommunenlatrine gedüngt. Sonst nichts. Die Kommunardinnen kämmen ihnen täglich die grünen Puschel und flechten Zöpfchen hinein. Dazu singen sie ihnen mit sanfter Stimme traurige Liebeslieder vor. Mittwochs ist Badetag – da badet die Kommune zusammen mit allen Tieren, dem Obst, Gemüse und landwirtschaftlichem Gerät in einem riesigen Waschzuber auf dem Hof. Stets werden zuallererst die Möhrchen gebadet, wenn das Wasser noch heiß und sauber ist, anschließend werden sie getrocknet, massiert und behutsam wieder eingepflanzt, zum Weiterwachsen.

Am Ende kommt aber doch der Tag des Abschieds: Bevor sie verpackt und verkauft werden, fragt frau die Möhren natürlich – keine Antwort ist auch eine Antwort: Ja! Ein Großteil des Verkaufserlöses fließt über den Umweg Kommunenlatrine ohnehin zurück in die Möhrenzucht. Die Tränen rinnen reichlich. Wenn der Reichelt-Laster mit den Biomöhren vom Hof fährt, winken alle, bis er hinter den sanft geschwungenen Hügeln am diesigen Horizont Südostniedersachsens verschwunden ist.

Da ist es keine Frage, wie ich mich entscheide. Ich muss, ich will und ich kann ein Vorbild sein. Ich trage Verantwortung für diese Welt, die wir von den Waschzubermenschen nur geliehen haben.

Aber ich trage Verantwortung auch für mich, der ich schließlich sehen muss, wie ich über die Runden komme. Und 69 Cent für einen Sack Atommöhren sind nun mal unschlagbar.