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hamburger szene von Petra SchellenWeinen ist Silber

Ich überlege, wäge hin und her, spalte jedes Haar, zerdenke die Sache. Am Krankenhaus in Eppendorf steigt sie aus, es ist zu spät

Wenn sie doch geschwiegen hätte! Dann hätte ich bequem im Bus sitzen und sie einfach blöd finden können: die Bus-Sitznachbarin, von der ich mich genervt weggesetzt habe, weil sie gar zu viel Raum einnahm.

Mein Platz ist jetzt ganz vorn, wo quer übern Gang ein Mann mit Hund sitzt, sie erzählen sich was, schauen sich an wie Freunde, haben es sichtlich gut miteinander. Die anderen Passagiere auch, es wird geredet, gelacht, ein munterer, optisch wie akustisch vielfältiger Bus ist das: nicht zu leise, nicht zu laut, wie ein kleines, feines Kammerorchester.

Allerdings, das war nur das Prelude, die Einleitung: Langsam, aber stetig kristallisiert sich eine melancholische, dann immer dramatischere Solostimme heraus, und richtig: Es ist meine Ex-Nachbarin am Handy. „Gestern ging es ihr noch gut“, „fast hops gegangen“, sagt sie schluchzend, „ich sag euch Bescheid, wenn ich …“, sie weint, weint, weint.

Das lässt keinen kalt, die Busgespräche werden leiser und verstummen, sogar der Hund schweigt betreten. Kein Zweifel: Sie ist auf dem Weg zum UKE, und wer weiß, was sie da vorfinden wird. Eigentlich will ich sofort aufspringen, sie trösten, in den Arm nehmen, wenigstens minutenlang Gemeinschaft bieten. Andererseits: Ob das nicht unangemessen und übergriffig wäre? Will diese Frau wirklich von einer Wildfremden getröstet und angefasst werden, die ihr Leiden letztlich nicht ermessen kann?

Aber wenn nicht: Warum erzählt sie ihre Geschichte dann laut im vollbesetzten Bus? Ist das ein Hilferuf? Oder ist sie so tief in sich versunken, dass sie die Menschen drumrum gar nicht mehr registriert? Ist dieses öffentliche Telefonat vielleicht schon in sich therapeutisch, weil ein klar benannter seelischer Schmerz bereits halb gebannt ist? Wie empfände ich an ihrer Stelle?

Ich überlege, wäge hin und her, spalte jedes Haar, zerdenke die Sache. Am Krankenhaus in Eppendorf steigt sie aus, es ist zu spät. Vielleicht haben meine Mitpassagiere und ich schlimm versagt, und sie fühlt sich jetzt schrecklich allein. Ach, wenn man Gedanken lesen könnte!

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