gesellschaftlicher stillstand in der tabelle von MICHAEL RINGEL :
Feierlich wird zu Beginn jeder Fußballbundesliga-Saison im Wahrheit-Büro eine Stecktabelle aufgehängt. Auch in dieser Spielzeit hat die „Super-Tabelle für die Saison 2004/05“ wieder ihren Ehrenplatz an der Bilderwand gefunden. Mit allen Vereinsemblemen, aus Pappe, bunt bedruckt: 18 für die erste, 18 für die zweite Liga. Ohne die Regionalliga-Clubs. Zum Einstecken in die nach mühevoller Handarbeit mit einem Skalpell vorsichtig geöffneten Schlitze.
Die Stecktabelle stammt aus dem alljährlich erscheinenden Kicker-Sonderband, der zwar von Saison zu Saison immer altherrenschnarchiger wird, aber damit auch wieder etwas Beruhigendes hat. Dass sich nämlich wenigstens ein kulturelles Bollwerk gegen den ach so rapiden Verfall unserer Zivilisation stemmt – und sei es der Kicker mit seinen Fußballberichten direktemang aus den Fünfzigerjahren. Gruselig schön …
Nun aber ist es doch zu viel geworden mit dem Stillstand, womit allerdings der gute alte Kicker wiederum nur am Rande zu tun hat. Beschweren müssen wir uns vielmehr bei der Fußball-Bundesliga und ihren Vereinen, respektive bei deren Vertretung: Die Deutsche Fußball Liga (DFL) hat komplett versagt! Denn irgendjemand muss ja verantwortlich dafür sein, dass sich nach dem 29. Spieltag am vergangenen Wochenende keinerlei Veränderungen in der Tabelle ergeben haben. Nichts, nada, niente!
Seit mehr als einer Woche ist keine Mannschaft mehr auf einen neuen Tabellenplatz geklettert oder abgesunken. Es ist alles genauso wie noch am 28. Spieltag. Die Tabelle ist einzementiert: „1. Bayern München / 2. Schalke 04 / 3. VfB Stuttgart / 4. Werder Bremen / 5. Hertha BSC Berlin / 6. Hamburger SV / 7. Bayer Leverkusen / 8. Borussia Dortmund / 9. VfL Wolfsburg / 10. 1. FC Kaiserslautern / 11. Hannover 96 / 12. Arminia Bielefeld / 13. 1. FC Nürnberg / 14. FSV Mainz 05 / 15. Borussia Mönchengladbach / 16. VfL Bochum / 17. Hansa Rostock / 18. SC Freiburg“.
Obwohl sich am Samstag und Sonntag einiges getan hat in der ersten Liga: Die herrlich herablassenden Bayern haben die Meisterschale so gut wie sicher; die Schalker haben wieder einmal bewiesen, dass sie nicht nur die hässlichsten Fans der Welt haben, sondern auch noch zu dumm sind, Meister zu werden; und gleichzeitig tobt im Tabellenkeller der wunderbar nervenaufreibende Abstiegskampf. Alles in allem eine recht spannende Ausgangslage für das Ende der Saison. Die sich aber nicht in der Stecktabelle widerspiegelt.
Wozu, bitte schön, brauchen wir dann unsere Kicker-„Super-Tabelle“, wenn sich nichts, aber auch rein gar nichts verändert? Wenn alle Pappen beharrlich auf ihren Plätzen kleben? Ist es ein Zeichen, das weit über die Bundesliga hinaus verweist? Dass unsere Gesellschaft gar nichts mehr will, am wenigstens Veränderung? Gibt es Entwicklungen tatsächlich nur noch in der zweiten Liga, wo sich ein Kölner Ziegenbock und ein Duisburger Zebra einen abwechslungsreichen Kampf um den Platz an der Sonne liefern? Wo ist der Fußball-Obererklärer Norbert Seitz? Fragen über Fragen. Auf die hoffentlich die moralphilosophische Gesellschaftszeitschrift Kicker eine Antwort weiß. Sonst kaufen wir für die nächste Saison nämlich keine Stecktabelle mehr.