gedisst: Lebe ich als Kieler seit Jahren in kaum erträglicher Langeweile?
Der Hamburger Journalist Frank Keil findet Kiel langweilig –schreibt er jedenfalls in einem Beitrag über die derzeit dort stattfindende Ausstellung zur Fotokunst Nan Goldins in der taz vom Dienstag. Meine Heimatstadt. Was für ein Diss! Wobei …
Das Klischee existiert wohl nicht komplett ohne Grund. Und er hat auch nur „etwas“ langweilig geschrieben. Und trotzdem: Ist hier lediglich einem Großstadt-Journalisten die Perspektive verrutscht oder lebe ich seit Jahren, ohne es zu wissen, in kaum erträglicher Langeweile?
Wenn Kiel schon „langweilig und schluffig“ ist, was ist dann erst das Dorfleben Schleswig-Holsteins? Ein agonisches Wachkoma, lediglich durchbrochen durch den alljährlichen Wacken-Urknall und gelegentliche Wildschwein-Angriffe im Maisfeld?
Dass die Kieler Club- und Konzertszene reichlich, wenn nicht fast ausschließlich, Anlass für Kulturpessimismus liefert, da gehe ich mit. Aber grundsätzlich langweilig? Kann ein nukleares Erstschlagziel langweilig sein? Wenn’s für Putin reicht, warum dann nicht auch für den Kollegen aus der Großstadt?
Und überhaupt: Was macht denn seine Heimatstadt Hamburg so schrecklich interessant?
Der Hauptbahnhof bietet jedenfalls kein sonderlich beeindruckendes Bild: angepisste Menschen in billigen Anzügen –endkapitalistische Wohlstandsverwahrlosung, soweit das Auge reicht. Eine Dose Red Bull kostet 4,99 Euro. Die Bahnhofstreppe ergibt wahrscheinlich keine faire Stichprobe, aber die Grundgesamtheit? Mostly charmless.
Wenn Langeweile bedeutet …
– im Kieler Bahnhofsviertel mit kanadischen Navy-Soldaten, die hier vor Anker liegen, ein Bier zu trinken,
– im „Hot Rock“ bei Flens’für zweifuffzich, die Lyrics christlich-fundamentalistischer Power-Metal-Bands aus feministischer Perspektive analysiert zu bekommen,
–Bayern-Torhüter Manuel Neuer nach dem Pokal-Aus gegen Holstein Kiel 2021 aus nächster Nähe zu bepöbeln (wann hat Bayern eigentlich zuletzt in Hamburg verloren, hatte Neuer da überhaupt schon eine Profilizenz?),
– dem Vorsitzenden der Campus-Union im Irish Pub dabei zuzusehen, wie er beim Flirten mit seinem 15-Punkte-Mathe-Abi zu landen versucht,
– den eigenen Tinder-Affären an der Supermarktkasse, auf dem Campus oder im Wartezimmer zu begegnen, oder
– mitten in der Klausurenphase am Strand sonnenzubaden,
… dann lebe ich gerne in Tristesse und Langeweile … Lennart Sämann
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