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gaza-tagebuchEs gibt Wörter, die ich nicht mehr akzeptieren will

In einer US-Fernsehsendung hörte ich einen Satz: „Die Welt ist nicht für Menschen wie uns gemacht.“ Er hat mich auf seltsame Weise getroffen. Er blieb hängen. Ich begann darüber nachzudenken, ihn auf mein Leben in Gaza zu übertragen – besonders in diesen Tagen. Und ich erkannte: Die Welt, in der wir leben, ist wirklich nicht für Menschen wie uns gemacht.

Ich wollte immer Zeugin dessen sein, was geschieht. Doch mit der Zeit versank ich in ein schwarzes Loch. Ich hatte nicht mehr die Energie zu beschreiben, was im Gazastreifen geschieht. Ich hatte nicht mehr die Kraft, auf die Frage „Wie geht es dir?“ zu antworten – eine Frage, die derzeit wohl alle als absurd empfinden. Ich hatte nicht die Energie, andere zu fragen: „Was ist los?“ Egal, wie schwer ihre Last war, ich konnte ihnen nicht helfen, sie zu tragen.

Jeden Tag höre ich Wörter, die mein Verstand nicht mehr akzeptieren will. Ich verachte das Wort Verhandlungen. Ich will es von niemandem mehr hören – ebenso wenig die Wörter Krieg, Völkermord, Abkommen, Vermittler, Geiseln, Proteste. Ich will niemanden mehr in einem schicken Anzug unter einer Klimaanlage stehen sehen und ihn sagen hören: „Wir verurteilen ... Wir verurteilen aufs Schärfste ...“ Was ist denn das sogenannte Schärfste?

Ich will keine weitere „Evakuierungsanordnung“ in schlechtem Arabisch aus dem Mund eines israelischen Soldaten hören. Ich möchte meinen Kopf wie ein Vogel Strauß in den Sand stecken, das Wort Vertreibung nicht mehr hören. Ich möchte nicht den Rest meines Lebens als „Vertriebene“ bezeichnet werde, so wie mein Großvater bis heute ein „Flüchtling“ ist.

Früher starben wir, „damit Palästina leben konnte“. Jetzt sterben wir, weil ein Laib Brot zum größten Wunsch jedes Vaters geworden ist. Und zum Ziel jeder Mutter, die ihr Kind schreien hört: „Ich habe Hunger!“

Einmal ging ich die Al-Rimal-Straße im Zentrum von Gaza entlang – eine überfüllte Straße voller Zelte und Marktstände, voller Menschen, die sich kaum ins Gesicht sehen. Alle Augen sind auf das gerichtet, was die anderen in den Händen tragen – Einkaufstüten mit Lebensmitteln. Ich sah einen Jungen, der am Eingang eines Zelts auf seinen Vater wartete und auf die schwarze Tasche in der Hand seines Vaters starrte, ohne sehen zu können, was darin war. Der Junge stand barfuß da, hüpfte auf der Stelle und schluckte erwartungsvoll, als sein Vater näher kam – sein Körper blass, als fließe kein Blut mehr in seinen Adern. In dem Moment, als der Vater das Zelt erreichte, schnappte sich der Junge die Tüte und brach in Gelächter aus.

Ich stand wie erstarrt da und starrte auf die Szene. Der Vater streichelte seinem Sohn über den Kopf, lächelte aber nicht. Dann öffnete der Junge die Tasche. Darin waren zwei Tomaten. Das war alles.

Das Leben selbst scheint entwertet. All diese Freude – für zwei Tomaten? All dieser Schmerz – für zwei Tomaten? Was für eine bittere Ironie. Wie konnte die Rebellion gegen die Besatzung, der Kampf um das Recht auf Leben, zu einem Kampf um ein Stück Brot verkommen?

Die Besatzung hat uns weit mehr als nur Land genommen. Alle Wärme scheint verschwunden. Ich habe Angst, dass ich nicht überleben werde. Ich habe Angst, dass ich vergessen werde, was geschieht – selbst wenn ich alles aufschreibe. Ich habe Angst, meine Lieben leblos im Staub zu finden. Angst, nur noch Trauer und Verlust zu spüren.

Ich möchte an eine Idee glauben, die nicht vom Blut befleckt ist. Ich möchte sagen: Endlich haben wir in dieser Welt, die nicht für Menschen wie uns geschaffen wurde, unseren Geist wieder aufgebaut, unsere Herzen geheilt, alle zerstörten Straßen repariert. Die Welt, in der wir leben, und das Land, auf dem wir leben, ist endlich wieder für Menschen wie uns gemacht.

Sawsan Al-Ajouri hat an der Islamischen Universität Gaza Englisch studiert und schreibt seit acht Jahren Gedichte. Noch ist ihr Erstlingswerk unveröffentlicht.

Internationale Jour­na­lis­t*in­nen können seit dem Beginn des Kriegs nicht in den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im „Gaza-Tagebuch“ holen wir Stimmen von vor Ort ein.

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