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Archiv-Artikel

fußpflege unter der grasnarbe „Schmeißt ihn vor die Bahn!“

Die halbe Bundesliga-Saison ist gespielt. Ein Grund genug, kurz zurückzublicken – zwei Minuten eines gewöhnlichen Fußballnachmittags: Die Türen öffnen sich. Das Abteil ist bis auf den letzten Stehplatz ausverkauft. Die blau-weiße Masse glotzt und bewegt im Einheitstakt den Mund. „Draußen bleiben, draußen bleiben, hey, hey!“ Der junge Mann mit den langen Haaren zögert, zwängt sich dann aber doch in den Wagon – nur noch zwanzig Minuten bis Anpfiff. Gerüche von Bier und Männerschweiß füllen seine Nase aus. Ein gelangweiltes „Zurückbleiben bitte“ dröhnt aus unsichtbaren Lautsprechern. „Bin ich schon“, will eine Stimme lustig sein.

Alles lacht. Die Türen schließen sich. Der Mann steht mit dem Rücken zum Eingang. Die S-Bahn fährt an. „Zickzack Zeckenpack“, intoniert der Männerchor. Einzelne zeigen immer wieder auf den Zugestiegenen. Der versucht seine Unsicherheit mit einem Lächeln zu überspielen. Doch sein nervöser Blick findet keinen Fluchtpunkt. So ein großes Abteil, so viele Leute und alle sehen gleich aus. Warum bin ich bloß eingestiegen? „Zickzack Zeckenpack!“ Es schreien immer mehr.

Dann weiß er sich nicht mehr anders zu helfen: Er macht mit. So laut er kann. „Zickzack Zeckenpack“, hört er sich schreien und registriert mit Genugtuung die kurzzeitig irritierten Gesichter. „Man ist der blöd, der merkt gar nicht, dass wir ihn meinen“, johlt die Stimme neben ihm. Ein vielkehliges „Schmeißt ihn vor die Bahn!“ wird angestimmt. Mit Schals behangene Junge und ins Polyestertrikot gewurstete Alte skandieren gemeinsam. „Schmeißt ihn vor die Bahn!“ Die beiden Polizisten, die für Ordnung sorgen sollen, stehen daneben und gucken teilnahmslos. Ob sie sich ihren Teil denken? Der Mann mit den langen Haaren singt nun nicht mehr mit.

Er schaut zu Boden, der unter seinen Füßen schwankt. Sein Unbehagen ist zu Angst gewachsen. „Schmeißt ihn vor die Bahn! Schmeißt ihn vor die Bahn!!“

Fratzen grinsen ihn an, Finger zeigen auf ihn. Sein Puls rast. Ein junger Blonder kommt ganz dicht, schreit ihm ins Gesicht. „Du bist scheiße!“ Die Menge singt und lacht.

Wie weit eine Station sein kann, wie endlos lang zwei Minuten sein können. Die Ansage kommt einer Erlösung gleich: „Nächster Halt: Stellingen, Arenen.“ Wie auf Knopfdruck enden die Schmähgesänge. Sie werden von Schlachtrufen abgelöst. „Hier regiert der HSV.“ Die Türen öffnen sich. Der Mann steigt aus und hastet – gefolgt von der blau-weißen Masse, die grölend aus der S-Bahn quillt – in Richtung Treppe. Überall Menschen, überall blau-weiß, von überall Gesänge. Das Spiel kann beginnen, noch ist gar nichts passiert.