fundgrube : Kragtische
Über die Bedeutung der freien Form für die Gestaltung von Möbeln ist bislang wenig gesagt worden. Die Kritik entzieht sich diesem Thema entweder durch eine Zuordnung in die gewöhnlich nicht besprechungswürdige Kategorie Kunstgewerbe oder – bei entsprechender Reputation – durch die Bezeichnung als Skulptur. Diesen Blick versucht das vom Möbelhersteller TECTA getragene Kragstuhlmuseum mit dem neuen Buch „Kragtische“ zu verändern.
In seinem Vorwort stellt der für Konzeption und Layout verantwortliche Karl Unglaub die These auf, dass – analog zum Kragstuhl resp. Freischwinger – der Ersatz der üblichen vier Beine als Stützen den Tisch von seiner überkommenen, rechteckigen Form befreit habe. Ein Schelm, wem nicht die Trennung von Konstruktion und Raumdisposition als Kennzeichen berühmter Bauten in der Modernen Architektur in den Sinn kommt, die zur epochemachenden „freien Gestaltung“ der Grundrisse führte.
Freilich den „Kragtisch“ in dieser Genealogie als eigene „Evolution“ etablieren zu wollen, ist gewagt. Unbestritten ist jedoch, dass Künstler und Architekten aus einem Spektrum von Konstruktivisten bis hin zu Dekonstruktivisten häufig mit unregelmäßigen Tischformen experimentiert haben. Vielleicht bietet die Feststellung Stefan Wewerkas, der Tisch sei „das Zentrum wie der Brunnen im Dorf“ einen Schlüssel für dieses Interesse, denn Plätze, die nicht auf dem Reißbrett mit den gewohnten Hierarchien geplant wurden, haben selten eine geometrisch eindeutige Form.
Der hochwertige Druck und die ungewöhnliche Buchform entsprechen dem ästhetischen Anspruch des Inhalts. Der Initiator Axel Bruchhäuser hat es dem unlängst verstorbenen Architekten Peter Smithson gewidmet, dessen Entwurf für einen Neubau des Stuhlmuseums demnächst realisiert wird. Der Möbelfreund sollte sich deshalb für das nächste Jahr einen Besuch in Lauenförde (Weserbergland) im Kalender vormerken.
„Kragtische – Cantilever Tables“,hg. von Karl Unglaub, 66 S., Verlagder Buchhandlung Walther König,Köln 2003, € 18,50