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freundliche scherentherapie von CORINNA STEGEMANN

Seit meinem achten Lebensjahr leide ich unter Haareschneiden. Damals waren meine Eltern übereingekommen, dass ich total bescheuert aussähe, und ich musste zum Friseur. Man hatte mir versprochen, ich würde hinterher besser aussehen. Aber das war gelogen!

Am nächsten Tag lernte ich in der Schule auch noch ein Mädchen kennen, das sich für den Tod seinen Vaters verantwortlich fühlte, weil es ihn gebeten hatte, es vom Friseur abzuholen. Auf dem Weg zum Friseursalon verunglückte der Vater tödlich.

Von da an hatte ich Angst vor Friseuren, und ich fing ich mit dem „Selbst-Haare-Schneiden“ an. Zuerst am Kopf und später an Augenbrauen und Wimpern. Ich sah aus wie nach einer Chemotherapie. Nach einer Kur an der Nordsee mit 14 Jahren ließ ich meine Augenbrauen und Wimpern in Ruhe, fing aber mit den Kopfhaaren wieder an. Mit 17 Jahren waren meine Nasenhaare dran. Ich dachte, dass ich vielleicht so meine Kopfhaare in Ruhe lassen könnte. Aber weit gefehlt!

Als ich 20 Jahre alt war, bemerkte ein Bekannter: „Du hast aber einen breiten Mittelscheitel! “ Ich gestand ihm meine Sucht, und er sagte: „Dann schneide dir halt die Haare hinterm Ohr.“ Das hab ich dann auch getan. Ich habe geschnitten und geschnitten, bis meine beste Freundin Johanna eines Tages fragte: „Sag mal, schneidest du dir deine Haare eigentlich selbst?“ Ich hätte vor Scham in Grund und Boden versinken mögen, aber – so offen von der besten Freundin darauf angesprochen, war jedes Leugnen zwecklos.

Johanna war aber echt lieb. Sie versuchte mir verständlich zu machen, dass es für Fälle, wie ich einer sei, auch Experten gebe, so genannte Friseure. Bei mir kam alles wieder hoch. Ich versuchte, ihr zu erklären, was damals geschehen war, das tödliche Unglück des Schulmädchen-Vaters, aber Johanna sagte nur immer wieder: „Du musst dieses Trauma überwinden.“ Nach einem halben Jahr kam ich zu der Einsicht, dass Johanna es wirklich gut meinte und mir helfen wollte. Ich entschied mich für eine Konfrontationstherapie und vereinbarte einen Friseurtermin. Am Tag, als es so weit war, war ich sehr aufgeregt. Ich setzte mich in den Stuhl und hoffte nur, dass das Urteil nicht lauten möge: „Oje! Der ganze Kopf muss ab!“ Der Friseur wunderte sich aber nur über die kahlen Stellen hinterm Ohr.

Kurz und gut: Seitdem ich diese Hilfe regelmäßig annehme, sehe ich besser aus und habe sogar einen Freund. Und ich habe gelernt, meinen Trieb umzuleiten: Tag und Nacht bearbeite ich meinen Freund mit der Schere – Kopfhaare, Nasenhaare, Augenbrauen, Achselhaare, Barthaare, Wimpern, Schamhaare ... Mittlerweile sieht er total bescheuert aus. Nie wieder wird sich eine andere Frau für ihn interessieren. Und sie hätte Recht, eigentlich, wenn ich mir ihn genauer betrachte, interessiere ich mich jetzt auch nicht mehr für ihn.

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