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Archiv-Artikel

fast nullwachstum Konflikte der unbekannten Art

Es ist schon erstaunlich, wenn die Wirtschaftsforschungsinstitute ihre Wachstumsprognose in nur einem halben Jahr glatt halbieren müssen. Doch die Null vor dem Komma liegt im Trend. Seit 2001 wuchs die deutsche Wirtschaft durchschnittlich nur noch um 0,6 Prozent pro Jahr.

KOMMENTARVON ULRIKE HERRMANN

Das haben Finanz- und Wirtschaftsminister aus taktischen Gründen jedes Jahr aufs Neue ignoriert. Fehlten dann die eingeplanten Steuern und Beiträge, wirkte es stets wie ein Schicksalsschlag, der jede Notmaßnahme rechtfertigte. Nur als Ausnahme, selbstverständlich. Wenn etwa das gesamte Immobilienvermögen der Rentenkassen verkauft werden musste, dann war das keineswegs ein offizieller Grund zur Sorge. Amtlich hieß es stets: Die Renten sind sicher und bis 2030 stabilisiert.

Diese Fiktion wird sich nicht mehr lange durchhalten lassen. Die Haushaltsdefizite lassen sich kaum noch finanzieren, die öffentlichen Vermögenswerte sind weitgehend verkauft. Doch die Realität anzuerkennen ist sehr unerfreulich, denn Nullwachstum bedeutet Verteilungskonflikte der unbekannten Art. Bisher wurde nur der Zuwachs solidarisch geteilt. Jetzt muss ganz neu definiert werden: Was steht Rentnern, Kranken, Arbeitslosen, Beschäftigten noch zu – und was den Unternehmern? Auch Renditen haben ihre Selbstverständlichkeit verloren.

Obwohl es um die Zukunft geht, werden die Parteien paradoxerweise von ihrer Vergangenheit eingeholt. Die SPD entdeckt den Begriff des „Kapitalismus“ wieder. Und die Grünen können sich erneut einer Frage widmen, die sie für eine peinliche Altlast ihrer Parteigeschichte hielten: Nullwachstum als Chance.

Bei der Opposition ist der Bedarf an Neuorientierung rollengemäß noch nicht so groß. Aber auch dort werden altbekannte Rezepte zurückkehren. Es ist kaum vorzustellen, dass die FDP nicht irgendwann die zünftische Mittelstandspolitik neu entdeckt und zumindest rhetorisch dem deutschen Meister besonderen Schutz verspricht. Die Union wiederum wird – schon oft bewährt – auf den Patriotismus setzen. Es ist ein Wert an sich, Deutscher zu sein.

Sollte das Wachstum nicht bald anziehen, steht ein ideologischer Verlierer schon fest: der Neoliberalismus. Wer die realen Verlierer im Verteilungskampf sein werden, ist hingegen unklar. Denn Kapitalismus ohne Wachstum – das ist historisch so neu, dass alle Parteien überfordert sind. Sehr beunruhigend.