ein amerikaner in berlin : ARNO HOLSCHUH über Blut und Boden
Aus Tempelhofer Adern
Als Kind war ich lange Zeit bei den Pfadfindern. Da meine Heimatstadt in einem echten Wald liegt, lernten wir lauter nützliche Sachen, die man zum Überleben in der Wildnis braucht: wie man ein Lagerfeuer richtig anzündet, Zelte aufbaut oder mit einem Gewehr schießt. So bringen wir im Bundesstaat Indiana einem jungen Mann Verantwortung bei. Wir geben ihm eine Waffe und ermutigen ihn, zu schießen. Wenn er Amok läuft, wissen wir, dass er kein Verantwortungsbewusstsein hat. Natürlich gehen die Erwachsenen vorher in Deckung.
Es gibt aber auch ein moralische Komponente in dieser Erziehung. Die Pfadfinder haben sogar ein Motto: „Do a good deed daily“ – jeden Tag eine gute Tat. Das habe ich als Bengel so oft gehört, dass es Teil meiner Lebensphilosophie wurde. Ich fühle mich am Ende des Tages oft unverwirklicht, weil ich nur sinnvolle und keine eindeutig gute Taten vollbracht habe.
Als ich in Berlin das Schild vor der Charité sah, wusste ich, dass ich an diesem Abend ruhig schlafen würde: „Rettet Leben! Spendet Blut!“ Ich sah vor mir eine Reihe von blassen, schwachen Deutschen, die im Sterben liegen und alle nur auf mich warten. Außerdem war ich pleite und freute mich auf die 20 Euro Aufwandsentschädigung. Am Anmeldeschalter aber stellte sich das deutsche Unterlagenbewusstsein zwischen mich und die Reihe wortwörtlich blutarmer Deutscher: „Haben Sie“, fragte die Krankenschwester, „ihre Meldebescheinigung?“ „Nee“, antwortete ich lächelnd. „Dann können wir leider ihre Spende nicht entgegennehmen“, sagte sie trocken.
Ich wollte fragen, warum mein genauer Wohnort so wichtig ist, erinnerte mich aber, dass die Berliner ein sehr starkes Gespür für Stadtteilidentität haben. Klar: Mein Blut (Tempelhofer Herkunft) wird in dieser Mitte-Klinik mehr Respekt genießen als Kreuzberger Blut, da die Kreuzberger bekanntlich den ganzen Tag rumsitzen und sich gegenseitig anfixen. Gegen Abend bewerfen sie Polizisten aus Bayern mit Steinen, werden zusammengeschlagen, und brauchen dann anschließend selbst eine Bluttransfusion. Dieses Benehmen liegt bestimmt an ihrem Chaotenblut, und solches hat hier nichts zu suchen!
Also kehrte ich am nächsten Tag mit meinem Herkunftszertifikat zurück. Nun musste ich ein Anmeldeformular mit recht schwierigen Fragen ausfüllen: „Haben Sie Geschlechtsverkehr mit einem Partner gehabt, der oder die vielleicht Geschlechtsverkehr mit einer Person hatte, der oder die, auch nur aus Neugier oder Langeweile und im Sinne von ‚Einmal ist keinmal‘, homosexuellenen Sex gehabt hat?“ Ich tat, was andere Blutspender auch wahrscheinlich tun: die Fragen mit einem gewissen Grad an Ehrlichkeit beantworten.
Im Warteraum nutzte ich anschließend die Zeit, die anderen potenziellen Spender in zwei Kategorien zu teilen: die, die Blut aus Menschenliebe spendeten – ein Geschäftsmann. Und die, die nur die 20 Euro wollten – rund 20 junge, verkaterte Menschen und ein langer, magerer Penner, der aussah, als müsste er sich es verkneifen, die anderen um eine Kippe zu bitten.
Nach einer Stunde wurde ich ins Untersuchungszimmer gebeten. Eine junge Ärztin stellte natürlich noch mehr Fragen. Ein Amerikaner, der keine Medikamente nimmt? Das fand sie erstaunlich. Nicht einmal Aspirin? Da fiel mir ein, dass ich doch am Tag vorher Kopfschmerzen gehabt hatte und eine Tablette genommen hatte. „Dann gibt es ein Problem“, erklärte die Ärztin. „Das war aber nur eine Tablette, vor mehr als 48 Stunden“, erwiderte ich. „Na ja, für euch in Amerika ist Aspirin wohl kein Medikament, was? Hier aber schon. Was für eine Tablette war das denn?“ Als ich die Packung aus meiner Tasche gekramt hatte, wurde sie blass: „500 Milligramm!“, sagte sie erschrocken. Sie schien erstaunt, dass ich nicht schon mit lebensgefährlicher Vergiftung im Koma lag.
Ich hingegen guckte, als sei ich kurz vorm Durchdrehen, was auch der Wahrheit entsprach. Schließlich hatte ich mir eingebildet, mein Blut würde hier dringendst gebraucht. Sie verwechselte meine Wut jedoch mit Enttäuschung und meinte tröstend, dass ich noch heute ein Paar Blut- und eine Urinprobe abgeben dürfe.
Im Abgabezimmer traf ich den Penner wieder. Er hatte sichtlich Probleme, sein angeschlagener Körper wollte offenbar kein Blut von sich geben. Die Maschine neben ihm piepste alarmierend. Es schien mir irrsinnig, dass sein Blut spendewürdig war, meins aber nicht. Der ist vermutlich in Zehlendorf gemeldet, dachte ich mir.
Ich fuhr zurück nach Tempelhof. Kaum aus der S-Bahn ausgestiegen, sah ich eine alte Frau, die Hilfe brauchte, um die Straße zu überqueren. Die gute Tat dauerte nur zwei Minuten, mein Pfadfindergewissen war beruhigt. Aber das Beste ist: Die Dame fragte nicht nach meiner Meldebestätigung.
ARNO HOLSCHUH, 27, ist amerikanischer Journalist und lebt als Stipendiat für ein Jahr in Berlin