dvdesk: Flipperkugeln an der Wende zum 20. Jahrhundert
„Mein 20. Jahrhundert“ (Regie: Ildikó Enyedi; Ungarn 1989)
Lichter gehen an, Lichter gehen auf: Edisons elektrisches Licht in Birnen an Bäumen steht zu Beginn von Ildikó Enyedis weit ausgreifendem, dabei an Details sich verschwendendem Film. Es geraten dann Sterne am Himmel ins Gespräch miteinander, sie kommentieren die Geburt der Protagonistinnen Dóra und Lili, ein Zwillingspaar, beide gespielt von Dorota Segda, und auf geht es, in Schwarz-Weiß, hinein in eine Geschichte, die den zwei Frauen auf erratischem Weg folgt und dabei die Abschweifung liebt. „Mein 20. Jahrhundert“ verbindet schon im Titel furchtlos das historisch sehr Große mit einem sehr persönlichen Ich. Mit „On Body and Soul“ hat die ungarische Regisseurin Ildikó Enyedi in diesem Jahr den Goldenen Bären gewonnen. Dieser erstaunliche Film, zum Ende des sozialistischen Ungarn entstanden, war ihr Debüt.
Sehr eigen ist, was sie so alles miteinander verbindet. Sie schickt die Zwillinge auf getrennte, sehr verschiedene Bahnen. Die eine ist arm, als Anarchistin und Bombenwerferin unterwegs. Die andere gerät an Geld, an Männer, mit denen sie souverän spielt. Im Orient-Express begegnen sie einander, die eine zieht verführerisch Blicke auf sich, die andere ist in politischer Aktion. Die Lebensbahnen der beiden sind miteinander verknüpft, und sie sind es auch nicht. Ein Mann, es ist ein und derselbe, kreuzt ihre Wege und ihre Betten; man weiß nicht, was ihn treibt, er ist ein Rätsel und bleibt es, mehr das Prinzip der Verbindung, Z. ist sein Name, als eine Figur mit Geschichte.
In gewisser Weise gilt das auch für Lili und Dóra: Sie sind wie Flipperkugeln an der Wende zum 20. Jahrhundert unterwegs, werden fast wie Woody Allens Zelig in die Nähe von Thomas Edison und Otto Weininger (Paulus Manker in einem denkwürdigen Auftritt vor einem Saal von seinem Vortrag zunehmend erzürnter Suffragetten) und anderen, historisch weniger real existierenden Persönlichkeiten geschussert. Dann kommen sie, treibend, getrieben, von der rechten Bahn ab, auch der Film kommt von ihr ab, nach Birma, Sibirien, überallhin, oder wenn er minutenlang der Ich-Erzählung eines Menschenaffen im Zoo folgt, der berichtet, wie er in die Gefangenschaft der Menschen geriet.
Man wundert sich kaum, dass der Menschenaffe spricht; synchronisiert, und zwar auf klar hörbare, absichtlich künstliche Weise synchronisiert, sind alle Stimmen im Film. Man wundert sich kaum, dass später, kurz und unkommentiert, auch ein Helikopter mal auftaucht; die Zeit ist ein Ding, mit dem sich Enyedi ihre Freiheiten nimmt. Man wundert sich wenig, dass gegen Schluss alles in einem Spiegelkabinett zusammengeführt wird, mit Esel darin, der vorher schon eine Rolle als Transporter gespielt hat. Und wundersam schön ist das Ende des Films: In fliegender Fahrt geht es aus einem Wasser- oder Geburtskanal hinaus ins Freie, ins 20. Jahrhundert hinein, von dem sich der Film, und uns auch, obwohl er es besser weiß, Wunder verspricht.
Gefilmt ist das alles in ziemlich gloriosem Schwarz-Weiß. Nah am ganz frühen Stummfilm, ästhetisch, aber auch thematisch: In eine multiple Kinovorführung wird eine Bombe geworfen, keiner kommt um, im leeren Saal laufen die Projektionen ungerührt weiter. Der hyperkinetische Überschwang von Věra Chytilovás Meisterwerk „Tausendschönchen“ mit seinen ungezügelten Protagonistinnen ist sichtlich ein Vorbild für Enyedis dann aber doch ganz eigenen Wurf. Selbstbewusst stellt sie sich mit ihrem Debüt hinein in die Kinogeschichte. Ihre Karriere geriet bald ins Stocken. Aber nach dem Goldenen Bären darf man sich weitere Wunderdinge erhoffen. Ekkehard Knörer
Die DVD ist als Import aus Großbritannien ab rund 11 Euro erhältlich
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen