piwik no script img

dvdeskKarriere essen Körper auf

Marina de Vans „In My Skin“ (2002) ist ein sinnliches, nicht immer leicht zu ertragendes Kino

Alles beginnt mit einem harmlosen Unfall. Esther (Marina de Van) stolpert angetrunken auf einer Baustelle im Dunkeln, fügt sich dabei Schnittwunden am Bein zu und bemerkt es erst Stunden später. Sie lässt sich behandeln, der Arzt staunt, dass sie keine Schmerzen hatte, und fragt: „Sind Sie sicher, dass das Ihr Bein ist?“ Er stellt die Frage im Scherz, sie erweist sich aber als Kern der Probleme, die Esther mit ihrem Körper zu haben beginnt. Noch ehe die Wunden verheilen, greift sie zum scharfen Taschenspiegel und schneidet sich heimlich am Oberschenkel desselben Beins blutig ins eigene Fleisch.

Blutig und lustvoll, denn „In My Skin“ ist ein Film über Lustgewinn durch Selbstverstümmelung. Er führt in gelegentlich schwer erträglichen Szenen vor, wie die von der Regisseurin und Autorin Marina de Van vollkommen unerschrocken gespielte Heldin sich zu malträtieren lernt. Eine Erklärung für das Verhalten hat Esther, vom schockierten Lebensgefährten (Laurent Lucas) zur Rede gestellt, nicht. Auch der Film drängt einem keine Erklärung (oder ein Urteil) auf, er beobachtet nur, entsetzlich genau, aber gänzlich unspekulativ, das Auseinanderfallen eines Ich in ein verstümmelndes und ein verstümmeltes Selbst. Gerade die Kluft, die sich auftut, zwischen dem einen und dem anderen Selbst, scheint einen Spielraum zu eröffnen für die Autoerotik, der Esther verfällt, ohne recht zu begreifen, was sie tut.

Freilich verortet der Film die Entfremdungserfahrung sehr genau im Berufsleben seiner Heldin: Sie ist, als Mitarbeiterin einer Bank, auf dem Weg nach oben. Es liegt nahe, und die Regisseurin bestätigt das in Interviews, die blutige, buchstäbliche Rückgewinnung des eigenen Körpers, der eigenen Haut, als Reaktion auf die fortgesetzten Souveränitätszumutungen auf dem Karriereweg zu begreifen.

Zur plakativen These aber gerinnt dieser Zusammenhang nicht. Stattdessen setzt „In My Skin“ Szenen eines Kontrollverlusts einfallsreich und überzeugend ins Bild. Schon der Vorspann teilt sich per Split Screen in Positiv- und Negativ-Aufnahmen von Straßen, Menschen, Gebäuden in Paris. Sehr viel später im Film kehrt der Split Screen als mit Augen zu greifendes Zeichen der Dissoziation zurück, ganz ähnlich übrigens wie in Darren Aronofskys Drogen-Drama „Requiem For a Dream“.

Eine Blut-und-Messer-Sequenz im Hotelzimmer zerfällt in Bilder, Blicke und Geräusche, die für die Heldin, auch für den Betrachter keine zusammenhängende Erfahrung mehr liefern. Drastisch wie komisch inszeniert de Van ein Entfremdungserlebnis in einer Szene bei einem Geschäftsessen: Nach ein paar Gläsern Wein gerät Esthers linke Hand außer Kontrolle, greift in den Essensteller – und kurz darauf liegt der Unterarm vom Rest des Körpers sauber getrennt auf dem Tisch wie tot. Esthers rechter Arm kämpft erst mit dem linken, greift ihn sich, erobert ihn zurück und beginnt ihn, als Geste der Strafe und Wiederaneignung zugleich, unter dem Tisch mit einem scharfen Messer zu bearbeiten. Die Kolleginnen und Kollegen am Tisch plaudern währenddessen beinahe ungerührt über die kulturellen Unterschiede zwischen Europa und Japan.

„In My Skin“ ist, keine Frage, eine Zumutung und doch bewundernswert. Marina de Van hat sich mit Kurzfilmen – „Alias“ ist als Bonus auf der DVD zu sehen – und vor allem als Darstellerin bei und Mitarbeiterin von François Ozon einen Namen gemacht. Wer sie in Ozons „Regarde la mer“ als gestörte Persönlichkeit erlebt hat, hat sie gewiss nicht vergessen. An den Drehbüchern von „Unter dem Sand“ und „Acht Frauen“ hat sie mitgeschrieben.

Ihr bisher einziger eigener Langfilm aber übertrifft an Mut und Konsequenz die Werke des ungleich produktiveren und erfolgreicheren Ozon. Er ist die Erfüllung des Wunsches nach einem sinnlichen Kino – allerdings als Albtraum all derer, die gerne so gedankenlos danach rufen. Und er ist eine feministische Studie, nur ohne den enervierenden thesenhaften Literalismus Catherine Breillats. Es hat fünf Jahre gedauert, bis der Film in Deutschland wenigstens auf DVD erschienen ist. Keiner der wissen will, wie weit das Kino gehen kann und manchmal gehen muss, sollte ihn sich entgehen lassen. EKKEHARD KNÖRER

Die DVD ist für rund 20 Euro im Handel erhältlich.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen