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Archiv-Artikel

dream team (5) Chancen verpassen

Es muss 1974 gewesen sein, beim Spiel um den 3. Platz zwischen Brasilien und Polen. Anders als vermutet war die brasilianische Mannschaft eher schwach und lag in der 76. Minute durch ein Tor des polnischen Stürmers Lato mit 1:0 zurück. Plötzlich zeigte sich, dass auch die Ballkünstler aus Brasilien an ihre Grenzen kommen konnten. Blind und völlig von der Rolle rannten sie aufs gegnerische Tor und wurden immer wieder von der cleveren Verteidigung der Polen abgefangen. Dann geschah das Foul an Rivelino. Den anschließenden Freistoß führte er selbst aus und versetzte damit das polnische Team in hellen Aufruhr – immerhin hatte die brasilianische Nummer 10 mit dem irren Nietzsche-Schnauzer aus ähnlicher Situation das Siegtor gegen die DDR gemacht. Was nun passierte, ist eine vage Erinnerung: Rivelino suchte in der Mauer den Spieler, der ihn zuvor attackiert hatte, und nahm Maß. Der Schuss war hart, sehr genau und traf den Polen, der von der Wucht des Balls einen Moment wie betäubt niedersank. Umgehend trabte Rivelino, so ist es mir zumindest im Gedächtnis geblieben, zurück in die eigene Hälfte. Er hatte zwar die Chance auf den Ausgleich vergeben, aber dafür seine ganz private Rache genommen. Ein paar Minuten später ging Brasilien als Verlierer vom Platz.

Gewiss, es hätte doch auch Zufall sein können. Vielleicht war Rivelinos wütend draufgedroschene Revanche gar nicht eigensinnig oder sonst wie unsportlich gewesen, sondern bloß ein Patzer, die Folge von zu viel Druck oder zu wenig Konzentration. So wie der unplatzierte Elfmeter, den Hoeness zwei Jahre später im Finale der Europameisterschaft gegen die Tschechoslowakei in den Himmel über Belgrad gesemmelt hat. Andererseits passiert Superstars wie Rivelino oder Hoeness ein solches Malheur nur selten. Deshalb muss man auf diese Sekundenbruchteile des individuellen Versagens meistens lange warten: Lineker, der aus fünf Meter das leere Tor der Schweden nicht trifft, so dass England bei der EM 1992 nach Hause fahren darf. Das Pech des Beinahe, die Tragik jener ungenutzten Gelegenheit, mit der die Niederlage besiegelt wird – Fußball ist auch eine Abfolge von Enttäuschungen, ein Test der eigenen Leidensfähigkeit. Deshalb sind „hätte doch“ oder „wäre bloß“ die Zauberworte, mit denen Fans nach Worten suchen, um sich darüber zu trösten, dass ihre Mannschaft verloren hat. Wenn alles gut geht, denkt man beim Sieg ja nicht mehr groß über die womöglich im Dutzend verpassten Chancen nach und sieht im Rückblick lauter souveräne, wenn nicht triumphale, manchmal auch glückliche Spielzüge. Aber der eine Fehler, durch den unwiederbringlich zerstört wird, wovon man die restlichen 90 Minuten geträumt hatte, der schmerzt. Dass es schmerzt, ist wohl Liebe. HARALD FRICKE