documenta: Hundert Tage Kunst
Was hat eine ausgestopfte Giraffe mit dem Nahostkonflikt gemein? Die documenta provoziert Fragen - wir geben Antworten. Ein Ratgeber für alle, die nach Kassel reisen wollen.
1. Fahren Sie bald. Täuschen Sie sich nicht, die documenta ist schneller wieder vorbei, als Sie denken. Ab heute läuft der Countdown. Sie haben noch hundert Tage Zeit, um nach Kassel zu fahren. Ein Besuch lohnt schon allein wegen der Parkanlagen und musterhafter Fünfzigerjahre-Architektur. Vom Tempel auf der Schönen Aussicht, gleich neben der Neuen Galerie gelegen, öffnet sich der Blick in die Aue.
Unten, gegenüber der Orangerie, befindet sich die temporäre Architektur des Aue-Pavillons, der größte Ausstellungsort der documenta 12. Er sieht aus wie ein riesiges Gewächshaus oder ein provisorisches Flüchtlingslager. Von hier aus können Sie wieder zum Friedrichsplatz hinaufsteigen. Dort warten documenta-Halle und Fridericianum. Vergessen Sie auch nicht, das Schloss Wilhelmshöhe und das dort angelegte documenta-Reisfeld zu besuchen.
2. Kassel ist überhaupt eine Kunstreise wert. Auf dem Friedrichsplatz ist derzeit noch kein leuchtendes Rot, nur zartes Grün zu sehen. Die Mohnfelder der Künstlerin Sanja Ivekovic, die uns unter anderem an die Opiumproduktion in Afghanistan erinnern könnten, blühen noch nicht - das Wetter ist schuld.
Die Kasseler Innenstadt war immer schon beliebtes Spielfeld für Land Artists und Konzeptualisten. Wenn Sie ein bisschen Zeit haben sollten, suchen Sie auf dem Bahnhofsvorplatz die Plakette, auf der Dieter Meier 1972 ankündigte, er werde am Nachmittag des 23. März 1994 eben hier wieder anzutreffen sein. Oder auf dem Friedrichsplatz den vertikalen Erdkilometer Kupfer, den Walter de Maria hier versenkte.
KünstlerInnen: 113 Davon Frauen: 58 Werke: 530 Ausstellungsfläche: ca. 17.000 Quadratmeter Beginn: 16. Juni 2007 Ende: 23. September 2007 Öffnungszeiten: täglich von 10 bis 20 Uhr Eintrittspreise: 18 Euro, Dauerkarte: 90 Euro, Abendkarte (nach 17 Uhr): 8 Euro
Nicht lange suchen müssen Sie das Karussell, das Andreas Siekmann für die diesjährige documenta aufgestellt hat. Er hat es um das Standbild des Landesherrn, Friedrich II., herumgebaut, dessen Geltungsbedürfnis wir das Museum Fridericianum verdanken. Siekmanns Arbeit widmet sich der "Exklusive". Es drehen sich händeschüttelnde Politiker, hochgerüstete Polizisten und ausgebeutete Putzfrauen im Kreis. Hier wird unter anderem der Taxifahrer aus Sachsen gedacht, die wegen des Transports illegaler Einwanderer nach einer Denunziation verurteilt wurden.
3. Achten Sie auf Chinesen. Die sorgen für faszinierende Interaktionen, wie in der Straßenbahn am vergangenen Mittwoch geschehen. Eine ältere Dame aus Kassel fragt ihre asiatische Sitznachbarin: "Are you a Maoist?" Die Angesprochene antwortet: "No, Im from Thailand." Der Chinese Ai Weiwei hat für seine Arbeit "Fairytale" 1001 Chinesen zur documenta nach Kassel eingeladen. Die meisten von ihnen sprechen keine Fremdsprache und waren noch nie im Ausland.
Genau so viele Stühle hat Weiwei aus seiner Sammlung aufgestellt. Sie stammen allesamt aus der Qing-Dynastie (1644-1911), und einige von ihnen sind ironischerweise mit Swastikas verziert, da haben Chinesen und Deutsche gleich was gemeinsam. (Vielleicht haben Sie Glück und werden Zeuge, wie die Polizei die verfassungsfeindlichen Symbole abtransportiert.) Die Stühle stehen größtenteils im Aue-Pavillon in Gruppen zusammen. Sie werden diese Sitzgelegenheiten bald zu schätzen wissen.
4. Rockenschaubs müssen Sie nicht suchen. Es gibt Künstler, die überproportional vertreten sind, etwa der NeoGeo-Pionier Gerwald Rockenschaub. Wenn Sie das zehnte bunte Plastikteil sehen, gehen Sie einfach weiter, es ist entweder von Rockenschaub oder von John McCracken. Übersehen Sie aber Rockenschaubs beeindruckendes Plastikschulzimmer nicht!
5. Denken Sie dran, Ihnen soll viel ähnlich vorkommen. Die Kuratoren Roger Buergel und Ruth Noack stellten sich anfangs die Frage nach der Modernität, dem nackten Leben und der Bildung. Das hört sich komplizierter an, als es in Wirklichkeit ist, und war zumindest keine schlechte Idee. Dann aber formulierten Buergel und Noack das Konzept der "Migration der Formen", das als gescheitert betrachtet werden darf, wie Sie sehen werden. Es läuft nämlich schlicht darauf hinaus, formal ähnliche Arbeiten nebeneinander zu stellen und darauf zu hoffen, dass sich Zusammenhänge herstellen, die es nicht geben kann.
6. Fragen Sie sich: Bin ich Anarchist? Oder aus der Mittelschicht? Ihnen kann geholfen werden. Buergel und Noack halten Kunst nicht für einen Reparaturbetrieb für soziale und politische Defizite. Recht so. Sie soll die Kategorien transzendieren, in denen wir Gesellschaft denken. Ästhetische Autonomie hat für die beiden wiederum einen befreienden Effekt gegenüber bestehenden Verhältnissen.
Daher ist diese documenta nur an der Oberfläche eine Ausstellung, in der das Textil, der Faden und das organisch Runde eine wichtige Rolle spielen, sie widmet sich der immer aktuellen Frage des Verhältnisses zwischen dem autonomen Individuum und dem Kollektiv. Der Versuch, diesen Konflikt zu lösen, macht der documenta aber Probleme, und die Ausstellung droht immer wieder in ein wohliges Gesamtkunstwerk umzukippen. Es ist das alte Problem des Anarchismus: Er funktioniert höchstens, wenn alle sich kennen.
Die documenta sei mit westlichen Mittelschichten konfrontiert, die tendenziell reaktionärer und reaktiver werden oder eben aktivistischer und neugieriger, hat Buergel außerdem ganz richtig analysiert. Man kann hinzufügen: Das eine schließt das andere nicht aus, und auch die Kunst bleibt davon nicht verschont. Siehe dazu: 9.
7. Sie finden das schön? Die Kritik sagt Nein. Ein konkretes Ergebnis der Auseinandersetzung mit dem Modernismus werden Sie schnell bemerken. Der White Cube, der ideale, neutrale Ort des Modernismus, wurde nämlich eliminiert. Will heißen, die Wände des Fridericianums und der Neuen Galerie leuchten in Rot, Grün und Blau. Im Fridericianum komplettieren außerdem lange weiße Vorhänge das Bild. Wo man sie aufgehängt hat, obwohl sie gar nicht gebraucht werden, wurden sie kurzerhand als verbrecherisches Ornament zusammengerollt.
Das ist natürlich reine Provokation der Kritik. Boshafte Kritiker auch in dieser Zeitung haben sich nicht lumpen lassen und das Wort vom "Schöner Wohnen" in die Runde geworfen. So schlimm ist es auch wieder nicht. Hier zeigt sich aber ein generelles Problem. Denn die Kuratoren verstehen sich und die Ausstellung als Medium. Ironischerweise erscheinen sie aber grade wegen solcher übergreifender Designentscheidungen als eigentliche Großkünstler.
8. Lassen Sie sich nicht provozieren. Provoziert werden aber nicht nur die Kritiker, auch Sie könnte es treffen: Wenn Sie Walser-Fan oder passionierter Leser eines beliebten deutschen Nachrichtenmagazins sind, wenn Sie sich nicht gerne an Rostock-Lichtenhagen und andere Orte der jüngsten deutschen Geschichte erinnern lassen, sondern lieber den "Untergang" im Zweiten sehen, dann halten Sie sich besser von Alice Creischers Arbeit im Aue-Pavillon fern. Sie könnten unliebsame Überraschungen erleben.
9. Sie haben Knut! Trotzdem keine Angst vor politischen Arbeiten. So manche explizit politische Äußerung auf dieser documenta ist populistisch, sagt Ihnen nichts, was Sie nicht schon wüssten, oder ist im schlimmsten Fall sogar ausgesprochen dumm. Man könnte vom Exilchilenen Juan Davila erzählen, der in Australien Konzentrationslager entdeckt und die Stars der amerikanischen Flagge durch ein Hakenkreuz ersetzt hat.
Das eigentliche Musterbeispiel ist aber Giraffe Brownie, der Knut der documenta 12. Brownie verendete am 19. August 2002 im Zoo von Qalqiliya, dem einzigen im Westjordanland. Es war die Zeit der zweiten Intifada, weswegen die israelische Armee in die Stadt einmarschierte und es zu Gefechten kam. Brownie stürzte aus Panik, starb, wurde ausgestopft und vor kurzem nach Kassel gebracht. Merke: Der Nahostkonflikt ist eine der Katastrophen, mit denen man wunderbar in der Kunstwelt reüssieren kann, ohne auch nur die leiseste Denkbewegung vollbracht zu haben. Ja, die Giraffe ist tot.
10. Achten Sie auf diese Arbeiten. Sie können schöne, traurige, humorvolle, intelligente und bewegende Arbeiten auf dieser documenta sehen. Zum Beispiel Jo Spences Arbeit, die vom Kampf gegen den Krebs und der Entmündigung des Kranken erzählt, Harun Farockis Fußballinstallation, Kerry James Marshalls Gemälde, die Bilder von Annie Pootoogook, die Fotos von Louise Lawler, die Bildersammlung Luis Jacobs, Harvey Keitel in James Colemans Film, Saadane Afifs robotisches Gitarrenorchester oder Lukas Duwenhöggers Vorschlag für ein Mahnmal für die verfolgten Homosexuellen im Nationalsozialismus und danach.
14. Und jetzt noch der Geheimtipp. Roger Buergel und Ruth Noack haben eine ganze Reihe poetischer und gewitzter Konzeptkunst aus Osteuropa ausgegraben. Das ist das nächste große Ding. Also schauen Sie genau hin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert