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Archiv-Artikel

dieter baumann über Laufen Der Hang zum Quälen

Sport ist ein wunderbares Mittel zur Verständigung zwischen den Generationen

Letzten Monat stand eines Morgens ein Einkaufswagen in unserem Garten. Es war eines dieser übergroßen Dinger, die man nur in riesigen Supermarktketten mit Hilfe eines Euro aus der Kette lösen kann. Keiner wusste so recht, woher dieses Ding kam. In der Nacht davor hatte es ein großes Getöse in der Straße gegeben, verständlicherweise, denn viele jungen Menschen feierten die letzte Prüfung des Abiturs. Ohne Zweifel Grund genug zu feiern, aber braucht man für eine Party wirklich einen Einkaufswagen? Wie auch immer, nun stand dieses Ding im Garten. Ich habe es nicht einmal angerührt, denn die nächtlichen Ereignisse trugen sich unmittelbar vor meiner Abreise in die Schweizer Berge zu. Die letzten Trainingswochen vor der Weltmeisterschaft standen an. So steht der Wagen vermutlich immer noch da, während ich in der Höhenluft Kilometer für Kilometer laufe.

Die Zimmereinteilung im Trainingslager stellte mich die ersten Tage allerdings vor eine härtere Probe als das Training. Ein junger Athlet war mir zugeteilt. Nein, wir Leichtathleten residieren nicht im Grand Plaza Hotel, sondern in einer kleinen Ferienwohnung. Des Budgets wegen, Sie wissen schon. Der erste Handgriff des jungen Läufers am frühen Morgen war nicht der Weg zur Kaffeemaschine – die Zubereitung des Frühstücks überließ er dem erfahrenen Athleten –, nein, sein erster Handgriff ging zur Fernbedienung des Fernsehapparates. Ab sieben Uhr morgens MTV. Ich halte mich für einigermaßen tolerant, und so ließ ich das Dauergetöse klaglos über mich ergehen.

Früher, könnte ich sagen, gab es noch kein MTV und mehr Talente. Hungrige, begeisterungsfähige junge Menschen, die nichts anderes im Kopf hatten, als im Sport etwas zu erreichen. Heute ist das anders – dank MTV? Kein deutscher Zehnkämpfer bei der WM, kein Marathonläufer, kein 1.500-Meter-Läufer. Ganze Disziplinen scheinen wegzubrechen. Gebetsmühlenartig wird von der fehlenden Einstellung der jungen Athleten als zentralem Grund des Abwärtstrends gesprochen. Es fehle der Hang zum Quälen, wird gesagt. Ein Blick auf den Trainingsplatz hier in St. Moritz zeigt allerdings, dass es an den jungen Menschen allein nicht liegen kann. Einhundert Schülerinnen und Schüler sind zum Nachwuchstrainingslager des Schweizer Leichtathletik-Verbandes gekommen. Mit großer Begeisterung trainieren sie zweimal am Tag.

Auch in Deutschland gibt es viele Vereine, die große und gut funktionierende Schüler- und Jugendgruppen haben. Leichtathletik auf dieser Ebene ist durchaus populär. Viel schwieriger wird es, wenn sich diese Jugendlichen entscheiden müssen, zwischen dem Hobby Sport – und einer Berufsausbildung. Ein Konflikt, den man nicht mit fehlender Einstellung, sondern im Gegenteil mit Zielstrebigkeit beschreiben könnte. Viele setzen die Priorität auf die Berufsausbildung, zu Recht. Mein Zimmerkollege mag dafür ein Beispiel sein. Neben der Lauferei absolviert er sein Studium mit großem Engagement und in kürzester Zeit. Daneben läuft er 140 Kilometer in der Woche und hat sich schon früh in diesem Jahr für die WM qualifiziert.

Sein Hang zum Quälen, so würde ich sagen, zeigt sich schon allein durch sein mehrstündiges Fernsehprogramm jeden Tag. Ich hingegen war schon immer schlecht bei dieser Form des „Sich-quälen-Könnens“: Nach wenigen Tagen Musikbeschallung und mehrmaligem Ansehen eines für mich auffälligen Videoclips einer Gruppe namens Jackass bat ich meinen Zimmerkollegen, doch wenigstens vormittags auf das Fernsehen zu verzichten. Ich wollte nicht ständig an den in meinem Garten liegenden Einkaufswagen erinnert werden. Denn im Film sah ich, was sich in unserer Straße nächtens abspielen könnte: Im Video saß einer der Burschen als Passagier im Einkaufswagen und ließ sich in rasender Geschwindigkeit auf eine Bordsteinkante schieben. Der Wagen hob dadurch im wahrsten Sinne des Wortes ab und flog in hohem Bogen mitsamt dem Insassen in ein Blumenbeet, einen Rasen oder ein Gebüsch. Je nach Spielart und zur Erhöhung des Spaßfaktors saßen manchmal zwei oder drei im Wagen und kullerten nach der Begegnung mit dem Randstein über die Grünanlagen.

Die Jungs von Jackass hatten ganz offensichtlich ihren Spaß und ich frage mich, wie viele Spaßvögel wohl gerade durch unser heimatliches Gebüsch kullerten. Dieser Gedanke rieb mich auf und ich war froh, dass mein Kollege genau so tolerant war wie ich. Er ersparte mir in den kommenden Tagen dieses Programm. Einen Tag vor seiner Abreise hörte ich ihn am Handy sagen: „Gestern Abend sind wir etwas später zu Bett gegangen, wir haben uns noch einen Film angesehen.“ Es entstand ein kleine Pause, der Gesprächspartner stellte offensichtlich eine Frage. Darauf antwortete mein Läuferkollege: „Nein, kein Fernsehverbot gestern, er hat mitgeschaut.“

Fragen zum Training?kolumne@taz.de