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Archiv-Artikel

dieter baumann über Laufen 1.000 Kilometer Umweg für den Geist

Die deutschen Leichtathleten sollten gut gelaunt zur WM nach Paris fahren. Schon daraus wurde leider nichts

Die Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Paris ist in vollem Gange. Der „letzte“ Rest der deutschen Mannschaft ist gestern aus Kienbaum kommend in Paris eingetroffen. Wie bitte? Kienbaum?

So ist es. Das kleine Dorf liegt rund eine Autostunde östlich von Berlin. Aber es ist nicht so sehr der Ort, sondern das Sportzentrum Kienbaum, das in der Tat für deutsche Sportgeschichte steht. Das dortige Bundesleistungszentrum ist nämlich nicht irgendeine Sportschule, sondern ein Sportzentrum allererster Güte und war vor Jahren das Zentrum des DDR-Sports zur Vorbereitung aller großen Meisterschaften.

Das gute Abschneiden der DDR-Mannschaften wurde nicht zuletzt auf das wochenlange konzentrierte Training in Kienbaum zurückgeführt. „Fernab von jeglichem Trubel“, wie es der Vizepräsident des Sportbundes, Feldhoff, formulierte, wurde dort der gute Mannschaftsgeist beschworen. Es war also kaum verwunderlich, dass kurz vor dem Jahreshöhepunkt in diesem Jahr die Reise nach Kienbaum zum Pflichtprogramm der Athleten wurde. Grundsätzlich können wir ja gute Geister sehr wohl gebrauchen, auch und gerade in der Leichtathletik.

Während auf Wunsch von oben nun recht bemüht der Mannschaftsgeist gepflegt wurde, holten sich wohl manche Athleten auch noch den letzten „Schliff“ für den Wettkampf. Wobei allerdings zu viel Training eine Woche vor dem Tag X im Grunde nicht mehr sinnvoll ist.

So ließ man stattdessen alte Traditionen aus längst vergangenen Tagen wieder aufleben. Etwa die Mannschaftstaufe für „Neulinge“. Sie war früher mal aus der Not entstanden, dass die Sportler wochenlang zum Training quasi kaserniert waren und wenig Abwechslung hatten. Ganz nach Roberto Blancos Motto „Ein bisschen Spaß muss sein“ war die Taufe für die Athleten eine nette kleine Abwechslung. In der heutigen Zeit des professionellen Leichtathletikzirkus mit Grand Prix Meetings oder Golden League Events wirkt solch eine Aktion allerdings schon ein bisschen befremdlich.

Zudem flogen nach drei Tagen bereits die ersten nach Paris, und die anderen folgten ihnen Tag für Tag nach. Das Reglement gab schließlich vor, zwei Tage vor dem jeweiligen Wettkampftag zur WM zu fliegen. Geschlossene Anreise zwecks Mannschaftsgeist war nicht vorgesehen. Bei denen, die zurückblieben, kam so sicherlich kaum WM-Stimmung auf. Aber sei’s drum, fast alle waren da und gaben sich Mühe, den guten Geist zu beschwören.

Ganz offensichtlich jedoch hatte sich unter den Mitarbeitern des Sportzentrums mein Unmut herumgesprochen. Schon am ersten Tag wurde ich besorgt von einer Putzfrau gefragt, ob es mir denn gefalle in Kienbaum.

Aber natürlich. Das Sportzentrum, das Dorf, die Landschaft, alles ist sagenhaft und geradezu geschaffen für ein ordentliches Trainingswochenende. Nur: Kienbaum liegt nicht eben gerade auf dem Weg von Tübingen nach Paris. Vor allem deswegen war ich verstimmt. Dennoch sei dem Personal, immerhin 45 Angestellte an der Zahl, hiermit versichert, dass dieses Sportzentrum alles hat, was ein Athlet braucht, um sich in Ruhe für große Aufgaben vorzubereiten. Und nicht nur für die Topathleten, für viele Freizeitläufer wäre es etwas ganz Besonderes, an diesem Ort einige Trainingsrunden zu drehen.

Ich könnte mir beispielsweise vorstellen, eine Gruppe von LäuferInnen in der Vorbereitung auf den Berlin-Marathon an drei Wochenenden nach Kienbaum einzuladen – in der ersten Woche, nach der vierten und nach der achten Woche: Training plus Vortrag und Motivation pur, die Bestzeiten würden garantiert purzeln. Kombinieren könnte man das Ganze mit einer kleinen sporthistorischen Führung durch die legendäre DDR-Unterdruckkammer, die bis zur Wende noch in Betrieb war.

„Selbst die Russen durften da nicht rein“, wurde mir versichert. Ich schon. In den Innenraum gelangt man durch eine Schleuse, die mit einer Verpflegungsklappe wie eine Isolationshaft-Einzelzelle ausgestattet ist. Drinnen zwei große Räume, im einen ein Wasserbecken zum Kanutraining und im anderen einige große Laufbänder. Eines davon schrieb Sportgeschichte. Waldemar Cierpinski lief in der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele 1980 darauf 42,195 Kilometer. Man hatte ihm die Originalstrecke von Moskau auf Video aufgezeichnet und gleichzeitig abgespielt. Selbstverständlich mit den unterschiedlichen Höhenmetern. Es wurde ein Goldmedaille daraus.

Bitte kommen Sie jetzt nicht auf die Idee zu fragen, warum keiner mir das Video von einem 10.000-Meter-Lauf im Pariser Stadion aufgezeichnet hatte! Und: Keine Angst, liebe FreizeitläuferInnen, bei der Vorbereitung auf den Berlin-Marathon würde ich auf das Üben auf dem Laufband natürlich verzichten.

Fragen zu Kienbaum?kolumne@taz.de