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Archiv-Artikel

dieter baumann über Laufen Elf Leichtathleten mit feinen Antennen

Was tun, wenn sich der Präsident nicht fürs Team interessiert? Enttäuschung und Ungehorsam in Kienholz

In meiner Zeit als aktiver Fußballer, vor über zwanzig Jahren, war die Rückennummer 11 für den linken Außenstürmer reserviert. Die einzige Bedingung war, dass der Träger der 11 den Ball auch mit dem linken Fuß einigermaßen spielen konnte – schon war der Stammplatz gesichert. Man sagte den linken Stürmern auch immer nach, ein bisschen verschroben zu sein, Sonderlinge innerhalb einer Mannschaft.

Einige Male durfte ich als rechter Verteidiger gegen diese scheinbaren Exzentriker spielen. Daher kann ich sagen, dass diese Bezeichnung stets nur für die „echten“ Linksfüßer zutraf. Die meisten haben trotz der linken Außenbahn ein viel stärkeres rechtes Bein. Sie sprinten wie wahnsinnig bis zur Grundlinie hinunter, um sich dann mit einem kunstvollen Haken den Ball doch wieder auf das stärkere rechte Bein zu legen. Das sieht alles etwas umständlich aus, kostet Zeit, und der Verteidiger muss nur den Raum zur Spielfeldmitte im Auge behalten – dann hat er den Ball.

Bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Paris spielte in diesem Jahr die Zahl 11 auch bei uns im deutschen Team eine gewisse Rolle. Nicht dass wir mit Rückennummern gestartet wären, aber unsere offiziellen Akkreditierungen trugen Nummern, und die Nummer 11 stand dort für „Team Village“. Sie erlaubte den ungehinderten Eingang zur Athletenunterkunft. Weil aber unser Präsident Clemens Prokop nie im Mannschaftsquartier gesehen wurde, ging im Team das Gerücht um, auf der Akkreditierung unseres Chefs fehle die Nummer 11. Wir stellten uns vor, wie er jeden Morgen vor den großen Gitterstäben mit den Sicherheitsbeamten verhandelte und vergeblich um Einlass flehte.

Für Klarheit sorgte der Präsident des Leichtathletik-Verbandes selbst. Prokop verschickte eine Kopie seiner Akkreditierung an die Presse, um dem Gerücht mit der fehlenden Nummer entgegenzutreten. Tatsächlich war dort eindeutig die 11 zu erkennen. Das erklärt zweierlei: Erstens hatte er ungehindert Einlass ins Dorf; zweitens, trotzdem sah ihn die Mannschaft nicht. Offensichtlich spielt der Präsident einen „unechten“ linken Außenstürmer: Der Verweis auf seine 11 entpuppte sich als kunstvoller Haken an der Grundlinie, er wirkte umständlich und kostete nur Zeit.

Die hätte er besser investieren können. Beispielsweise bei der Teilnahme an der stillen Stunde, dem einzigen Mannschaftsereignis nach einer Veranstaltung. Schon beim Europacup im Juni in Florenz glänzte der oberste Repräsentant der Leichtathletik gegenüber seinen Athleten mit Abwesenheit, keine zwei Monate später auch in Paris.

„Stille Stunde“ ist natürlich nicht der zutreffende Begriff. Es wird viel geredet, auch mal lautstark, und es wird auch gelacht. Vor allem aber gibt es Lob, es wird geehrt für gute Leistungen, und Nadeln wechseln ihre Besitzer für den ersten, zehnten oder vierzigsten Länderkampf. Alles ist scheinbar unwichtig – und doch für die einzelnen Athleten eine bedeutsame Anerkennung. Kein einziger der sechs Präsidenten der letzten 15 Jahre ließ es sich nehmen, bei der stillen Stunde dabei zu sein. An ein Highlight vor vielen Jahren sei an dieser Stelle erinnert: Carlo Thränhardt hatte eine Bronzemedaille bei der Hallen-WM in Budapest 1989 gewonnen. Er wurde bei der anschließenden stillen Stunde mit blumigen Worten in den siebten Hochsprunghimmel gelobt. Ganz vergessen waren plötzlich die „zu vielen“ Wettkämpfe, die der große Blonde absolvierte, und der Vorwurf der letzten Jahre, seine Leistung am Tag X nicht beständig abzurufen. Langsam tappte Thränhardt nach vorne und sagte: „Wenn ich gewusst hätte, wie ihr euch über meine Medaille freut, hätte ich die letzten Jahre mehr davon gewonnen.“

Wie gesagt, der heutige Präsident versäumte gleich zwei dieser Ereignisse: beim Europacup in Florenz und bei der WM in Paris. Erstaunlicherweise war er am letzten Wochenende von den Athleten „menschlich enttäuscht“. 11 an der Zahl hatte er zur Jahrestagung des Verbandes in Kienbaum eingeladen, alles linke Außenstürmer, sozusagen – allerdings echte, die keine Haken an der Grundlinie brauchen. Sonderlinge sind sie und lassen sich eben nicht so einfach ins Team integrieren. Der Verband wollte in Kienbaum die Weichen für die Vorbereitung auf die Olympischen Spiele in Athen stellen. Die Athleten jedoch haben eine feine Antenne für das, was in diesem Verband geht, und auch für das, was nicht geht. Nicht geht ein in welcher Form auch immer geartetes Mitspracherecht ging aus der Einladung hervor: Es gab keinen einzigen Tagesordnungspunkt, der ein Gespräch, eine gemeinsame Diskussion oder „Mitarbeit“ vorsah.

So zeigten sich meine Kollegen trotz großer Enttäuschung des Präsidenten geradezu zum bürgerlichen Ungehorsam verpflichtet – und fast alle blieben einfach zu Hause. Es muss ja nicht immer gleich die Hose sein, die man runterlässt.