piwik no script img

die wahrheitDie Ruhe nach dem Lärm

Der Ehrlicherpark in Hildesheim als seltsames Kunst-, Forschungs- und Bauobjekt.

Der berühmte Rosenpfad führt an ihm vorbei, das legendäre Weltkulturerbe ist ein ganzes Stück entfernt und auch vom Bahnhof ist es nicht der nächste Weg. Dennoch ist der "Ehrlicherpark" in Hildesheim für viele Insassen der Stadt ein Ort von Bedeutung, stellt er doch beinahe den einzigen klassischen Stadtpark in relativer Zentrumsnähe und von entsprechenden Ausmaßen dar. Im Jahr 1929 durch den Hildesheimer Verschönerungsverein der Öffentlichkeit übergeben, trug zur Attraktivität des Parks sicherlich die Tatsache bei, dass von da an bis in die jüngste Vergangenheit außer der Entfernung einiger besonderer Baumarten wegen öffentlicher Gefährdung nicht viel passierte. 1993 fiel schließlich noch eine Rotbuche um, die wegen ihrer verästelten Form seitdem als Kletterobjekt genutzt wird.

Doch am 3. März 2006 fand die Ruhe im Park ein jähes Ende. Mit einer meterbreiten Inschrift, zwei Stehtischen und etlichen Sektgläsern hatten sich eine Hand voll halbvermummter Gestalten eingefunden, um unter dem Motto "Anstoßen" auf ihr Dasein als Künstler und den Beginn einer Forschungs- und Kunstinitiative zu trinken, die dem Park ein ganzes Jahr lang zu Leibe rücken sollte. Das "Ernst-Ehrlicher-Institut", das "Experimente konzipiert, diese in der Parkanlage durchführt und die Durchführung der Experimente aufzeichnet", um so die "Nutzungsmöglichkeiten von Parkanlagen mit Hilfe eines experimentellen Ansatzes zu untersuchen", wie es auf der "zur Verfügung stehenden Kommunikationsplattform" www.ernst-ehrlicher-institut.de hieß, nahm seine Arbeit auf.

Fortan wurden in loser Folge "Parkzwerge" umhergetragen, es wurde in Bassins geplanscht und gepinkelt, auf Leinwände gepinselt und Fallobst aufgelesen. Bereitgestellte Spaten und Primeln regten zur Eigeninitiative an, wobei dieses Experiment aufgrund von zu viel Eigeninitiative abgebrochen wurde, als man die Spaten in Form des Wortes TOT gruppiert, mitsamt einer daran befestigten suizidsymbolisierenden Barbiepuppe auffand. Die anderen Experimente aber liefen jeweils so lange, bis das gestellte Inventar zerstört, vergraben oder verschwunden war.

Während des gesamten Forschungszeitraums konnte man den Park als "Livebild" im Internet betrachten. Die Kamera, die das Livebild aufnahm, wurde zum Objekt der größten Kontroverse und im institutseigenen Forum Gegenstand einer heftigen Debatte, die das Für und Wider der Überwachung öffentlicher Räume auf bizarre Weise widerspiegelte.

Beendet werden sollten die Experimente nach einem Jahr durch ein neuerliches "Anstoßen" unter dem Titel "Anstoßen 2", jedoch ist diese Aktion aus unbekannten Gründen nicht mehr dokumentiert. Das letzte bis heute online zugängliche "Livebild" zeigt den Park am 1. März 2007, seither war weder von Experimenten noch vom Institut etwas zu hören. Ganz nebenbei und völlig unabhängig von den Kunstaktionen entstand dafür bei der umgestürzten Rotbuche ein sogenanntes "Frauen-Labyrinth", ein schmaler Weg, der dazu anregt, stundenlang meditierend im Kreis zu gehen und schließlich die fünf Meter entfernte Mitte zu erreichen.

Doch damit war es nicht genug. Nun wollte auch die Stadt Hildesheim der Parknutzung ihren Tribut zollen. Die Teiche, vor 200 Jahren als Fischteiche angelegt, sollten abgelassen und entschlammt werden. Bagger, Planierraupen und Laster schufen Zufahrtswege, gruben Löcher, schütteten Hügel auf, befestigten Wege in die Teiche und verwandelten den Park in eine Kraterlandschaft. Der Zutritt war offiziell nicht mehr gestattet. Zwischen den Baugeräten und den Schlammbergen spielten zwar nach wie vor die Kinder, auf der Baustelle dagegen standen bald alle Räder still und wozu sie noch diente, war lange Zeit nicht ersichtlich.

Bis man aus der Hildesheimer Allgemeinen Zeitung den Grund erfuhr: Der Schlamm, den die Stadt aus den Teichen geholt und als "Boden" neben eine Kleingartensiedlung gekippt hatte, um einen Hügel daraus zu kultivieren, stellte sich als mit Schwermetallen belasteter Abfall heraus, bei dem es sich sogar um Sondermüll handeln könnte. Allein die Entsorgung dieses Schlamms würde die Stadt mindestens 10.000 Euro kosten, das ganze Baustellenchaos nicht mitgerechnet. Die Stadt nahm vom Ausbaggern der restlichen 8.000 Kubikmeter Schlamm aus Kostengründen "vorläufig Abstand". Die Teiche wurden wieder mit Wasser vollgepumpt, die Wege begradigt und in den Baustellenschlamm Rasen gesät.

Anfang Juni 2007 verließ der letzte Bagger das Gelände. Der Park sieht so aus wie vorher und von den Umwälzungen der letzten Jahre zeugen nur noch der unter zartem Gras sichtbare aufgewühlte Boden, Reste von Absperrband und ein merkwürdig öliger Film auf den Teichen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!