piwik no script img

die wahrheitWer schwänzt, stört nicht

Rütli - Neuköllns selbstbewusste Antwort auf Waldorf. Ein Ferienbesuch

Lehrer einer Rütli-Schule bereiten sich in den Ferien auf das neue Schuljahr und die aktiven Schüler vor Bild: ap

"Wer schwänzt, stört nicht", künden große Lettern über dem Eingangsportal der Graciano-Rocchigiani-Nebenschule in der Weisestraße. Früher war dies eine ganz gewöhnliche Hauptschule mit einem ganz gewöhnlichen schlechten Ruf. Seit etwa einem Jahr ist hier jedoch eine der zahlreich neu gegründeten Rütli-Schulen untergebracht - Neuköllns selbstbewusste Antwort auf Waldorf.

"Ach, hören Sie mir mit Waldorf auf." Herablassend winkt Konrektor Wolfsmann ab. Hier im Berliner Problembezirk Neukölln steht der Lehrer für Sternkunde, kreative Komparation und gleichgeschlechtliche Lebensweisen Besuchern wie mir bei der Schulbesichtigung mit Rat und Tat zur Seite. Eine Schulbesichtigung, die nur in den momentanen Schulferien stattfinden kann. Alles andere wäre viel zu gefährlich.

"Waldorf ist doch eine Pfeife vor dem Herrn. Der gescheitertste Ansatz seit Hitlers Überfall auf die Sowjetunion", kann er sich ein leichtes Nachtreten dann doch nicht komplett verkneifen. "Wir sehen hier vor allem den Menschen", erklärt der smarte Wolfsmann das Prinzip Rütli, benannt zu Ehren von Robert Rütli, einem Chemielehrer, der im Unterricht von einer Gruppe staatenloser Schüler in die Luft gesprengt wurde. Danach erfolgte endlich ein allgemeines Umdenken. Der Schulbesuch soll wieder Freude machen - "sehen Sie", führt Wolfsmann aus, "es heißt doch nicht umsonst ,Schulbesuch': Ein Besucher kann kommen und gehen, er ist ein gern gesehener Gast, der sich wohlfühlen soll."

Tom Kärcher, damaliger Bezirksstadtrat für Jugend, Familie, Schule und Sport in Neukölln, organisierte einen runden Tisch, an den neben sämtlichen Schulleitern auch Vertreter des 1. FC Neukölln, der Hisbollah sowie ein lustiger Zauberer geladen waren. Das Ergebnis war der sogenannte "Rütli-Schwur" - eine einvernehmliche Einigung auf vollkommen neue Lerninhalte und Konzepte. "So viel zur Theorie", tritt der patente Pädagoge mit breitem Grinsen die Tür zu einem Klassenzimmer auf, "und nun zur Praxis."

Im Klassenraum schubsen fünf Lehrer - "die Schüler sind ja in den Ferien" - abwechselnd eine Gestalt, die in eine Burka gekleidet ist, durch eine Gasse aus beiseite geschobenen Schulbänken - überwacht von einer 40-jährigen Latzhosenträgerin. "Das ist unsere krasseste Klassenlehrerin", wird mir Frau Geyer vorgestellt, die die Übung im Fach "Nettsein im Straßenverkehr" erklärt: "Wir üben mit den Lehrern, dass sie den Schülern beibringen, eine blinde, alte Dame auf die Straße zu schubsen. Das macht du sehr schön, Fatima", klatscht die Lehrerin aufmunternd in die Hände. Aus der Burka ertönt ein leises Brummen.

Fatima sei selbstverständlich nicht nur vom Schwimm- und Sexualkundeunterricht befreit, sondern von allen Fächern, bei denen geguckt und gesprochen werden muss. Frau Geyer zuckt mit den Achseln: "Und wenn schon - ist das wichtig? Bei uns sind alle Schüler gleich."

Behutsam schließen wir die Tür. Was nicht nur hier ins Auge sticht, ist ein wunderbar knallharter Tonfall im Umgang miteinander. Ob Anpöbeln oder Dissen, Happy Slapping oder Messerfeilen, welchen Unterricht wir auch verfolgen, die Lehrer wissen genau, wie ihre Schüler ticken.

"Willst du mich anmachen, du Arsch?", schallen aus einem Unterklassenraum gewohnte Töne. Im Fach Deutsch, erfahre ich daraufhin, müssen übliche Redewendungen erlernt werden, damit die braven Rütli-Schüler auf der Straße gegenüber den Waldorfrabauken nicht wehrlos unter die Räder geraten. Fast anrührend wirkt die gequälte Miene einer Junglehrerin beim gezwungenen Herauspressen des Satzes "Fick dich, du Fotzenspast", doch es geht nicht anders: Auch an den Rütli-Schulen lernt man letztlich für das Leben, und das ist nun mal hart.

Zurück auf dem Schulhof, lernen wir die AG Film kennen. Lehrer spielen orientalisch geprägte Schüler, die mit ihren Butterflymessern posieren. Unter Anleitung einer erfahrenen Lehrkraft wird ein Dokumentarstück über das "Abziehen" gedreht - alles muss sitzen, damit die späteren Abnehmer bei Sat.1 oder RTL das Spiel auch nicht durchschauen.

"Die Bilder haben den positiven Nebeneffekt, dass die Rütli-Schulen nicht völlig überlaufen sind", freut sich Wolfsmann zum Abschied, "wenn die wüssten, wie es bei uns wirklich zugeht, könnten wir uns vor Anmeldungen nicht retten." Dann kann das neue Schuljahr ja getrost kommen, meint Wolfsmann schließlich und boxt mir vor lauter Freude zum Abschied derart heftig in den Unterleib, dass ich mich noch lange vor dem Eingang zur Graciano-Rocchigiani-Nebenschule Neukölln krümme.

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen

1 Kommentar

 / 
  • AR
    Antonius REyn

    Hi, ywah & jaus: das gilt auch für und Bienen, die die Lindenbäume auf dem Schulhof besuchen: sommerbum-summsüßerumm! Das gibt Propolis!

    Wer nicht mitsaugt, - sticht, -fackelt, darf sich nicht Revoluzzer in natura nennen.

    Und kommt nicht in den BILD - und nicht in die taz.

     

    Da hebt ein Ökolehrer - die werden noch als Pappattrappe aufgestellt - den die Armklappe und signalisiert rot:

    Hüh! Passt auf, ihr Besucher:

    Der Sicherheitsdienst hat schon die Klatsche in der Hand.