die wahrheit: Diktatur des Proletariats
Um den öffentlichen Nahverkehr nutzen zu können, müssen meine Nachbarschaft und ich uns an der einzigen Bushaltestelle im Umkreis von zwei...
U m den öffentlichen Nahverkehr nutzen zu können, müssen meine Nachbarschaft und ich uns an der einzigen Bushaltestelle im Umkreis von zwei Kilometern einfinden. Wir sind allerdings nicht irgendwo auf dem flachen Land, sondern die Haltestelle liegt im tiefen, tiefen Kreuzberg, kurz vor der Grenze zum republikweit bekannten Berliner Problembezirk Neukölln. Nicht, dass wir hier keine Probleme mit unseren Jugendlichen hätten - kurz vor der Bushaltestelle prangt zum Beispiel ein wohlüberlegtes Graffito an einem Imbisswagen: "Titus is schwuler Nazificker ohne Eier". Gründlicher geht es derzeit wirklich nicht.
An der Bushaltestelle wiederum habe ich noch vor ein paar Jahren gehofft, dass die dort versammelten Schüler ihre Butterflymesser weiterhin nur auf einen Baumstamm werfen und sich nicht anschicken, sie an lebenden Zielen auszuprobieren. Insgesamt aber ist es etwas ruhiger geworden. Zuletzt verbot ich hier zwei Zehnjährigen, Zeitungen anzuzünden, und zu meiner großen Überraschung gehorchten sie sogar.
An einem überraschend klaren Sommermorgen mit blauem Himmel und grünem Licht aus Lindenblättern drangsaliert auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein vermutlich türkischstämmiger Jugendlicher zwei Steppkes. Sie sind erst doppelt so groß wie ihre bunten Schulranzen und wehrlos, werden sie doch von dem Kriminellen in spe an der Flucht gehindert und an eine Hauswand gepresst. Mütter, Väter oder andere Verwandte sind nicht zu sehen. Man wird wohl hinübergehen, eingreifen und sich aufs Übelste beschimpfen lassen müssen. Den Bus wird man dadurch auch verpassen.
Allerdings entwischen die Kurzen dem Halbstarken nun, und er setzt ihnen auch nicht nach, sondern dreht ab und nimmt schlurfend Kurs auf die Bushaltestelle. Vierzehn oder 15 Jahre wird er alt sein. Er trägt Jeans und einen blauen Kapuzenpullover, seine Haare sind offenbar erst vor kurzem einer Rasur zum Opfer gefallen. "Und? Happta mich gesucht gestan?", wendet er sich an einen moppeligen Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund, "wo warta denn gestan Abend?" Der Kumpel, schwer zu verstehen, murmelt etwas von "Billard mit Halit" und "voll langweilig". Sie sehen sich an, die Hände in den Hosentaschen. "Halit, ja? Gehta wieda raus. Na gut, wenna meint, dassers sich leisten kann."
Sie schweigen, starren auf ihre Turnschuhe. Der Kinderschubser zündet sich eine Zigarette an und wirft einen weiten Blick in die Runde. Er entdeckt die beiden Kleinen, die er eben noch in der Mache hatte. Sie sind nur wenige Meter weitergekommen und beschießen sich gegenseitig fröhlich aus Wasserpistolen. Sein Körper strafft sich, er wirft die Zigarette zu Boden und tritt sie energisch aus. "Ey!", brüllt er über die Straße hinweg. Die Knirpse erstarren. "Ey! Gehtma Schule!!!" Sie sausen los, weiterhin im Wasserpistolenduell, und verschwinden um die nächste Ecke. "Echt", sagt der Drangsalierer, "imma muss man dabei sein. Imma muss man auf die aufpassen. Wenn man nicht dabei ist, würden die in Mülltonnen kriechen, ich schwöre." Er schüttelt den Kopf und seufzt.
Der Bus kommt.
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