die wahrheit: Radikal wie George Grosz
Die Geschichte der Kunst muss umgeschrieben werden: Dieter Bohlen ist jetzt Künstler.
Nun ist es gerichtsnotorisch: Dieter Bohlen macht Kunst. Das Kölner Sozialgericht überführte den in dieser Hinsicht bislang unbescholtenen Hamburger Musiker in einem spektakulären Indizienprozess der "freien, schöpferischen Gestaltung" und forderte für seine Arbeit als Juror der Fernsehsendung "Deutschland sucht den Superstar" von RTL Abgaben in Höhe von 173.000 Euro an die Künstlersozialkasse.
Die Einwände der Verteidigung, bei Bohlen handele es sich um einen "minderbegabten Großkotz, der alleine nicht mal zum Klo findet" lehnte das Gericht als nichtig ab, auch die Aussagen der im Zeugenstand vernommenen Ghostwriter Bohlens ("Meine Hammersprüche") überzeugten das Gericht nicht. Dass sich bedeutende Künstler gelegentlich von anderen inspirieren oder die Werke schreiben ließen, das finde sich schon bei Bertolt Brecht und der habe auch immer fleißig in "diese Sozialismuskasse da" eingezahlt.
"Wir haben Bohlen nur genommen, weil er wirklich jeden Scheiß mitmacht", versuchte sich RTL-Anwalt Martin Reufels in Schadensbegrenzung. "Dass man ihn jetzt als Künstler diffamiert, macht mich traurig."
"Wenn Kunst verstörend und provozierend sein soll", bestätigte ein sichtlich verstörter Prozessbeobachter, "dann ist das Kunst." Mehrmals musste die Beweisaufnahme unterbrochen werden, und als der Vorsitzende Richter, von Weinkrämpfen geschüttelt, dem Oeuvre Bohlens die "emotionale Wucht" von Picassos Guernica attestierte, gab es sogar Standing Ovations.
"In wenigen Worten sagt Bohlen mehr über den Zustand unserer Gesellschaft aus, als andere zeitgenössische Künstler wie Jonathan Meese in einer ganzen Ausstellung", erklärte der Staatsanwalt in seinem Plädoyer - eine Einschätzung, der sich das Gericht schließlich anschloss.
In der Urteilsbegründung heißt es, Bohlen demaskiere die "Inhumanität einer entfesselten Konsumgesellschaft" und schaffe gerade in seinem Hauptwerk "Meine Hammersprüche" "wirkmächtige Metaphern für die Folgen der entgrenzten Ökonomisierung unserer Gesellschaft". Besonders eindrücklich verstehe es Bohlen, so argumentierte das Gericht, die "niederschmetternde Hoffnungslosigkeit des in der postindustriellen Gesellschaft überschüssig gewordenen Menschenmaterials" zu illustrieren, das, "aller sozialen und ökonomischen Entfaltungsmöglichkeiten beraubt", verzweifelt die fingierten Casting-Shows als "Angebot gesellschaftlicher Repräsentanz" zu deuten versuche. Eine Hoffnung freilich, die Bohlen in seinen "spitzzüngigen Kommentaren" als naiven Trugschluss überführe. In verstörender Deutlichkeit lege Bohlen mit seiner Arbeit die "menschenverachtenden Verwertungsmechanismen der Medienindustrie" offen, zumal er dieses "Panoptikum des Schreckens" im "Gewand einer heiteren Unterhaltungssendung" präsentiere. "Bohlen ist in seiner Radikalität mit einem George Grosz zu vergleichen", schloss der zutiefst beeindruckte Richter die Begründung.
Die Kunstwelt nimmt das Urteil mit gemischten Gefühlen auf. Während die Hamburger Deichtorhallen bereits für den Winter eine große Werkschau des "multimedial arbeitenden Ausnahmekünstlers" (Ausstellungskatalog) ankündigten, zeigte sich Exkollege Thomas Anders entsetzt: "Klar ist Dieter eine kranke Sau. Aber Künstler? Das hätte ich nie von ihm gedacht."
CHRISTIAN BARTEL
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