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die wahrheitDie letzte Sensation

Dieter Bohlen errötet.

Alles hatte man von ihm erwartet. Dass er der sensationslüsternen Öffentlichkeit die letzte Befriedigung geben und einen Mord an seiner Freundin begehen würde. Vor laufenden Kameras würde er mit seinem Ferrari quer durch Norddeutschland flüchten, um schließlich, von Fotografen und Kameraleuten umringt, verhaftet und in die Psychiatrie eingewiesen zu werden. Doch dann sollte alles ganz anders kommen. Es war ein stiller, kleiner, inniger Moment, der die vor den Bildschirmen versammelte Nation erschaudern ließ: Dieter Bohlen errötete.

RTL unterbrach sofort das laufende Programm; die ARD setzte einen "Brennpunkt" nach der "Tagesschau" an; und auch das ZDF ließ sich nicht lumpen und beleuchtete alle Aspekte des Bohlen-Skandals in einem "ZDF-Spezial". Es sei ein "noch nie da gewesener Augenblick der Fernsehgeschichte" gewesen, erklärte der Medienexperte Jo Groebel. Es sei eine "neue Phase der Geistesgeschichte eingeleuchtet und angeläutet worden", meinte der Philosophie-Experte Peter Sloterdijk. "Jetzt wird Ussama Bin Laden endgültig gefasst", sagte der Terrorismusexperte Elmar Theveßen, der offenbar in die falsche Sendung geraten war.

Dieter Bohlen aber schwieg. Und schwieg. Und schwieg. Lange, bange, arg viel Sendezeit verzehrende Minuten. Während das erstarrte Fernsehvolk an den Geräten klebte und jede noch so kleine Bewegung des sensationellsten Deutschen zu verfolgen trachtete. Noch immer zog sich der zarte Hauch blasser Röte über das an Falten nicht arme und von kantigen Kau- und Sprechwerkzeugen geprägte Antlitz. Bislang war hinter der gelblichen Gesichtshornhaut nie etwas geschehen, keine Regung, kein Gefühl hatte sich seinen Weg gebahnt - bis zu diesem Moment, als das, an eine Debütantin bei ihrem ersten Ball gemahnende, fein abgetönte Abendrot auf den Wangen Bohlens aufgezogen war, das in krassem Kontrast zu seinen letzten Worten stand, die im Wahrnehmungsapparat des Publikums endlos nachzuhallen schienen: "Schieb dir doch ne Gurke in den Arsch, dann kannste noch höher jodeln!"

Bohlen hatte einem jungen unfähigen Kandidaten seiner Show die rohen Worte gewohnt lässig hingerotzt. Seither lag Stille über der Szene. Die Experten aber sollten Recht behalten. Mit dem Erröten Bohlens wurde tatsächlich eine neue Phase der Fernseh-, ja Geistesgeschichte Deutschlands eingeleitet: eine Ära der Empfindsamkeit. Was vorher eisige Gefühlskälte war, schlug um in eine sentimentale Teilnahme an selbst den unbedeutendsten Dingen unserer Zeit - wie der Sendung "Deutschland sucht den Superstar". Und dort zeigte es sich schließlich: Dieter Bohlen besaß in Wahrheit ein weiches Herz. Gängigster Ausdruck der neuartigen Strömung sollte ein Seufzer werden, der Dieter Bohlen jetzt aus tiefer Brust hervorströmte. Die Starre löste sich. Das Fernsehvolk brach unter Tränen in Jubel aus.

Später würde Bohlen erklären, dass er plötzlich erkannt habe, dass niemand ihm mehr etwas anhaben könne. Er war endgültig unangreifbar geworden. Keine Kritik, keine Satire, keine gesellschaftliche Debatte könnte ihn auch nur ankratzen. Auf die Frage eines Reporters, wie er sich fühle, seufzte Dieter Bohlen: "Ach, scheißt der Rabe drauf!"

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